Interview. Himmel und Hölle auf St. Pauli

Der Kiezpastor: Sieghard Wilm (51) ist seit 15 Jahren als Pastor in der St. Pauli Kirche tätig.
Wilms
Foto: Phjlipp Jung
Der Kiezpastor Wilm und Hotte, der „Türsteher Gottes“ (re.). 2013 hatte Hotte mit anderen das Notquartier der über 80 Lampedusaflüchtlinge in der St. Pauli Kirche gesichert. Und erwarb sich so seinen Spitznamen.

Interview. Himmel und Hölle auf St. Pauli

Der Kiezpastor: Sieghard Wilm (51) ist seit 15 Jahren als Pastor in der St. Pauli Kirche tätig.

2016 hielt er für den 17-jährigen Nachbarsjungen Bilal eine Trauerfeier gemeinsam mit einem Iman ab. Der Hamburger hatte sich 2015 dem IS in Syrien angeschlossen und starb dort unter tragischen Umständen. Wilm erhielt als Reaktion auf die Trauerfeier zahlreiche Hassmails und Drohanrufe. „Man muss solche Dinge aushalten“, sagt er „wenn man überzeugt ist, das Richtige zu tun.“ Gerade jetzt las man erneut von ihm: Seine Kirche stellt den Demonstranten zum G20-Gipfel Schlafplätze zur Verfügung.

/ Interview: Regine Marxen / Fotos: Philipp Jung

SZENE HAMBURG: Pastor Wilm, wie geht es Ihnen heute, rund ein Jahr nach der Trauerfeier für Bilal?

Sieghard Wilm: Inzwischen hat sich alles beruhigt. Jetzt kommt aufgrund des Radio-Podcasts (Anm. d. Red.: Bilals Weg in den Terror, NDR), der jüngst veröffentlicht wurde, eine kleinere Aufmerksamkeitswelle. Aber ich habe bisher keine erneuten Hassmails bekommen. Man nannte mich damals einen Vaterlandsverräter. Ich würde die Kirche schänden. Aber das muss man aushalten.

Die Trauerfeier für Bilal war ja nicht Ihr erster Aufreger. 2013 zum Beispiel waren Sie in den Medien, weil die St. Pauli Kirche den Lampedusa-Flüchtlingen humanitäre Nothilfe gewährte.

Ja, in dieser Gemeinde brodelt es immer. In diesem Viertel ist eigentlich immer was los. St. Pauli ist in vielfacher Hinsicht der Spielplatz für Erwachsene. Das gilt nicht nur für das Feiern, sondern auch beim Austragen sozialer Konflikte. Zudem ist der Ton untereinander härter geworden.

Hängt das auch mit dem wachsenden Drogenhandel in St. Pauli zusammen? Die Dealer stehen ja quasi direkt vor Ihrer Haustür, im Park Fiction.

Ja, die Szene hat sich verändert. Damals wurden die meisten Drogen von Jugendlichen aus dem Kiez gehandelt. Jetzt reden wir von organisierter Kriminalität. Die Leute, die hier dealen, stehen für 20 bis 30 Euro am Tag auf der Straße und im Hintergrund streicht einer das große Geld ein. Früher begann das Dealen um 14 Uhr. Wir nannten das immer Dealerfrühstück, weil sich die Jungs am Kiosk erst einmal Kaffee und was zu esssen holten. Die waren ansprechbar. Mit denen haben wir ausgehandelt, dass auf unserem Kirchengelände nicht gehandelt wird. Mit den Jungs, die jetzt aktiv sind, lässt sich nichts mehr bereden. Sie werden auch ständig ausgetauscht, das ist Teil des Systems. Ich persönlich bin inzwischen,  was Drogen angeht, zum Hardliner geworden. Wenn man sieht, wie sich die Drogenhändler ganze Schulklassen nehmen und es für viele Kinder nur noch abwärts geht, das ist nicht schön. Wenn junge Menschen mit Mitte 20 bereits alle Vorderzähne verloren haben. Solche Bilder sieht man hier.

Wer christlich sein will, muss sich eben auch in schlechte Gesellschaft begeben

Bei allem Eskalationspotenzial: Ich habe gelesen, dass man heute in St. Pauli gerne heiratet.

Ja, das wäre früher nicht denkbar gewesen, dass man in Pauli heiratet. Warum auch? Man ging nicht nach Pauli, das war das Schmuddelkind. Aber die Erklärung für diese Entwicklung ist ganz einfach. Inzwischen gibt es viel mehr Gastro. Das hat sich sehr entwickelt. Das ist der absolute Kontrast: Da kommt eine Hochzeitsgesellschaft mit 150 Menschen, feiert, macht eine Hafenrundfahrt – und die merken gar nicht, dass sie mitten durch die Drogenszene gehen.

Der Kontrast zeigt sich ja auch an anderer Stelle im Stadtteil, oder? In St. Pauli wohnt man auch wieder gerne …

Die Schere ist weit offen: Hier in der Ecke sind mit die teuersten Immobilien Hamburgs. Eine  Wohnung kostet 1,4 Millionen Euro. Hier wohnen Millionäre. Und wenige Schritte unter der Brücke sind Leute ohne Obdach, die im Winter erfrieren. In St. Pauli ballt sich viel. Der Kontrast verschärft sich. Wenn es zum Beispiel eine Demo gibt, dann hat das immer Eskalationspotenzial. Und wir wissen ja alle, was in diesem Jahr auf uns zukommt mit dem G20-Gipfel.

Stichwort G20. Wird St. Pauli explodieren?

Das wird richtig, richtig heftig. Wir werden als Kirche auch eine Rolle spielen und müssen sehen, wie wir uns positionieren. Dass der Gipfel genau hier stattfindet, wird vom linken Pauli mit seiner Widerstandskultur als pure Provokation empfunden. Das wäre in jedem anderen Stadtteil einfacher.

Hat die Kirche als Institution es auch einfacher in anderen Stadtteilen?

Nein. Wir haben hier offene Türen. In diesem Stadtteil hatte die Kirche schon immer eine ungewöhnliche Stellung. Ich erkläre mir das immer so: St. Pauli ist eine Ausnahmewelt und die Kirche ist in dieser Ausnahmewelt wiederum eine Ausnahmewelt. Das bricht sich zweifach. Ich glaube, so mögen die Leute Kirche. Was heute eben nicht mehr geht, ist den Moralapostel spielen zu wollen. Kirche wird dann nur lächerlich, wenn sie belehren will. Wer christlich sein will, muss sich eben auch in schlechte Gesellschaft begeben. Denn: Auch Jesus war in schlechter Gesellschaft. (lacht)

Dann sind Sie als Pastor sehr nah dran.

Allerdings. St. Pauli ist ein Stadtteil, in dem sich diese biblischen Geschichten ganz anders erzählen lassen. Hier ist man viel dichter dran, viele Menschen haben gebrochenen Lebensläufen. Da kommen auch einige Jahre an Gefängnis zusammen (lacht).

Sie selber sind ja auch eine Ausnahmeerscheinung – in der Kirche. Sie sind bekennend schwul und leben gemeinsam mit ihrem Partner in St. Pauli.

Ich habe mir das vor 15 Jahren hart erkämpft, meinem damaligen Dienstherren gegenüber. Den störte meine Homosexualität. Als Pastor habe ich Residenzpflicht, ich musste hierherziehen, aber mein Partner durfte nicht mit. Damals haben die Gemeinde und ich uns durchgesetzt. Heute ist das alles normaler, einige Kollegen leben heute in Regenbogenfamilien und auch auf dem Land werden schwule Pastoren verstärkt akzeptiert. Aber damals war ich einer von denen, der diesen Kampf vorangetrieben hat.

Dieser Stadtteil wird zu sehr benutzt. Es tut einem richtig weh, das zu sehen.

Sind Sie deshalb auch bewusst nach St. Pauli gezogen? Weil in diesem Viertel so viele unterschiedliche Existenzen nebeneinander leben?

Ja, sicher. Hier habe ich übrigens auch meinen Partner kennengelernt, 1994 in einer dunklen Schwulenbar. Seit 1998 leben wir gemeinsam in St. Pauli. Weil es ein toleranter Stadtteil ist. Ich habe lange nicht gewusst, ob ich hier als Pastor arbeiten kann. Und als ich 2003 die auf Pastorenstelle gewählt wurde, war ich sehr froh.

Hat der Stadtteil sich trotz der wachsenden sozialen Schere seine Toleranz erhalten können?

St. Paulis Ton ist rau, aber herzlich. Die Integrationsbereitschaft im Viertel ist nach wie vor hoch. Und ich rede da nicht nur von den alten Paulianern. Auch die Neu-Paulianer haben eine hohe Identifikation mit dem Stadtteil. Die sind dann immer traurig, wenn sie wegziehen müssen, weil zum Beispiel die Kinder größer werden. Diese besondere Nachbarschaftlichkeit, die gibt es noch auf St. Pauli. Das Problem ist, dass an den Wochenenden die Gruppen einfallen, und das hat dann gar nichts mehr mit Nachbarschaftlichkeit zu tun. Dann feiern sie im Park Fiction und lassen Glasscherben und Müll zurück. Dieser Stadtteil wird zu sehr benutzt. Es tut einem richtig weh, das zu sehen.

Aber Sie selber ziehen ja mit Aktivitäten wie dem Reeperbahn Festival auch Menschen an zum Feiern. Immerhin ist die St. Pauli Kirche einer der Veranstaltungsorte.

Das Reeperbahn Festival ist ein gutes Beispiel, wie es gehen kann. Das sind Leute, die wir wollen. Was wir nicht wollen, sind die braven Spießbürger, die am Wochenende glauben, alles rauslassen zu müssen. Die grölen, saufen oder gegen Häuser pinkeln. Ich meine, das kann doch nicht sein: Ich komme nach Hause, und links und rechts vom Eingang stehen Menschen, die gegen mein Haus pissen. Ich sage, das sei hier kein Klo, da grölt der eine: Digger, das ist Pauli. Die haben keine Ahnung, was St. Pauli ist. St. Pauli ist für sie die Chiffre für: Hier darf ich mich gehen lassen. Das grenzt an Verachtung den Bewohnern gegenüber. Es passieren Dinge an den Wochenenden, die möchte man nie gesehen haben. Wenn ich die erzählen würde, sie könnten nicht mehr schlafen.

St. Pauli ist echtes Leben.

Schafft der Feiertourismus einen besonderen Zusammenhalt unter den Bewohnern?

Lassen sie es mich so umschreiben: Wir sind eine Insel. Wenn das Wasser steigt, rücken wir enger zusammen. In dem guten Glauben, dass sich das Wasser wieder verzieht. Wir haben hier 20.000 Einwohner und 10 Millionen Touristen im Jahr. Das ist wie eine Überschwemmung. Das schafft natürlich ein Gemeinschaftsgefühl. Aber es stellt auch eine Bedrohung dar.

Abschließend: Was ist Ihr St. Pauli?

St. Pauli ist echtes Leben. Das St. Pauli ohne Maske, das abgeschminkte St. Pauli. Das liebe ich. Mein Herz schlägt für die Menschen, in all ihrer Gebrochenheit und Widersprüchlichkeit.

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