Wie choreographiert man einen Shitstorm?

Shitstorm Hamburg

Eine freie Gruppe holt die virtuelle Lynchjustiz aus den sozialen Medien auf die Bühne. Die Künstlerin Helen Schröder über lawinenartige Folgen einer enthemmten Kommunikation

SZENE HAMBURG: Wie performt man einen digitalen Shitstorm?

Helen Schröder HamburgHelen Schröder: Wir gestalten die Performance partizipativ, indem wir unterschiedliche Spiele mit dem Publikum machen. Denn der Shitstorm im Internet funktioniert auch nur, weil viele Menschen sich daran beteiligen. Die Spiele werden emotional, spielerisch aber auch unangenehm, denn Shitstorm bedeutet im Englischen „eine unangenehme Situation“.

Meinst du das als „Mitmach-Theater“ oder wollt ihr, als Analogie zum Netz, provozieren?

Nicht im plumpen Sinne, bei dem jemand vorgeführt wird. Im Gegenteil, die Zuschauer sollen gegen uns shitstormen. Das Publikum soll nachfühlen wie es ist, Opfer, aber auch Täter zu sein. Dabei wollen wir die Anonymität, die das Handeln im Internet so einfach macht, in den Bühnenraum holen. Aber auch den Dualismus eines Shitstorms. Wenn man andere negativ kommentiert, entscheidet man sich für etwas und gleichzeitig gegen etwas und kategorisiert somit alles in entweder richtig oder falsch. Doch die Welt ist nicht nur schwarz-weiß.

Ist das Schubladendenken nicht auch in der realen Welt verbreitet?

In einem direkten Gespräch kann man aber vielschichtiger diskutieren. Auch entwickelt sich der Schneeballeffekt nicht, denn man verliert selten in dem Maße seine Hemmungen, wenn man demjenigen gegenübersitzt.

Das Thema ist zwar hochaktuell aber in der Kunst noch vernachlässigt …

Der Initiatorin Ekaterina Statkus kam die Idee zu diesem Stück, als sie das Buch „So You’ve Been Publicly Shamed“ von Jon Ronson las. Er hat Menschen interviewt, die Opfer eines Shitstorms geworden sind und das Erlebte beschreiben. Beim Lesen dachten wir die ganze Zeit nur: „Wow, wie kann das sein, dass das Digitale so sehr in den realen Raum eingreift?“ Diese Rückkopplung finden wir hochspannend und das wollen wir in unserer Performance verdeutlichen.

Kannst du ein Beispiel nennen?

Die PR-Managerin Justine Sacco hatte im Jahr 2013, kurz bevor sie in ihren Flieger nach Afrika gestiegen ist, folgenden Tweet gepostet: „Going to Africa. Hope I don’t get AIDS. Just kidding. I’m white!“ Elf Stunden später hatte sie ihren Job verloren und ihre Familie hatte sich von ihr abgewandt. Während des Fluges hatte sie nicht mitbekommen, welche Shitstorm-Lawine sie damit losgetreten hatte, da sie die ganze Zeit offline war und nicht sofort reagieren konnte.

Hätte Ellen DeGeneres das getweetet, wäre es ein gesellschaftskritisches Statement gewesen. Von einer weißen PR-Managerin aus New York wirkt es rassistisch, unabhängig von ihrer Intention …

Ja, das stimmt. Der gesamte Shitstorm hat diesen auch nur aus der rassistischen Perspektive wahrgenommen. Doch dieser „Witz“ ist mehrschichtig und sagt ebenso was über die weiße Gesellschaft aus, die dieses Gedankengut immer noch in sich trägt. Das zeigt, dass das Internet nicht das richtige Medium für komplexe Aussagen ist.

Muss man nicht mit Gegenwind rechnen, wenn man provokante Tweets postet?

Es gibt auch harmlosere Post, als zum Beispiel jemand an Silvester schrieb: „Oh, unsere Erde wird jetzt 2014 Jahre alt, wie wunderbar“. Das mag ein etwas dummer Kommentar sein, weil die Erde natürlich älter ist, aber trotzdem stehen die darauffolgenden Todesdrohungen und Selbstmordwünsche in keinem Verhältnis. Da finden Dynamiken statt, die gefährlich sind.

Was geht bei den Menschen in dem Moment ab, wenn sie Fremde mit diesem Hass bewerfen?

Ich denke, dass liegt an mehreren Faktoren: Der Mensch trägt eine Energie in sich, die sowohl ins positive als auch ins zerstörerische umgeleitet werden kann. Dazu kommt, dass der einzelne in der Masse schnell sein Verantwortungsbewusstsein verliert und die Anonymität dazu verleitet, mal ordentlich auf den Tisch zu hauen, denn in der Regel kennt man die Person nicht. Und hier greift auch das Phänomen der Gruppendynamik, die wir alle aus der Schulzeit kennen. Es ist immer einfacher gemeinsam mit anderen dagegen zu sein, als sich alleine gegen den Mob zu stellen. Hinterher weiß keiner mehr, wie diese Hasswelle überhaupt zustandekommen konnte.

Interview: Hedda Bültmann

Fabrique im Gängeviertel
Valentinskamp 34a (Zugang von der Speckstraße)
10.–11.8., 25.–26.11.
Karten per Mail über karten.shitstorm@gmail.com

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