70 Millimeter im Savoy

Das Savoy ist das einzige Kino in Hamburg, das Filme in 70mm abspielen kann. Filmvorführer Achim Orlia gewährte am Preview-Abend des neuen Paul Thomas Anderson- Films „Licorice Pizza“ einen Blick über seine Schulter
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Achim Orlia, 64, ist seit 45 Jahren Filmvorführer. Seit fast neun Jahren arbeitet er im Savoy (Foto: Jérome Gerull)

Achim Orlia steht am Eingang des Savoy Filmtheaters. Es ist Mittwochabend, 26. Januar, 19.30 Uhr: Freundlich begrüßt er die einzelnen Gäste, prüft den Impfstatus, wünscht „viel Spaß“. Das Foyer füllt sich – keine Selbstverständlichkeit in diesen Zeiten! Zwei Mitarbeiterinnen und ein Mitarbeiter reichen Tickets, Softgetränke und Popcorntüten über den Tresen. Mal wird Deutsch gesprochen, mal Englisch. Das Savoy ist bekannt dafür, Filme im Original zu zeigen – ohne Untertitel. Das zieht viel internationales Publikum an, aber auch Filmenthusiasten, die die Originalversion einer Synchronfassung vorziehen.

Auf dem Programm steht die Preview von „Licorice Pizza“, dem neuen, vielfach gelobten Paul Thomas Anderson-Film, in 70mm! Vorführungen mit analogem, „echtem“ Film in diesem besonderen Breitbildformat hat Seltenheitswert. „70mm ist mit Vinylplatten im Musikbereich vergleichbar“, erklärt Gary Rohweder, Leiter des Savoy. Das Breitbildformat, das einen förmlich ins Geschehen hineinzieht, war einst monumentalen Klassikern („Ben Hur“, „Spartakus“) und großen Science-Fiction-Werken („2001: Odyssee im Weltall“) vorbehalten. 70mm verspricht nicht mehr und nicht weniger als das beste Filmerlebnis, das analog möglich ist. 70mm ist der Stoff, aus dem die Träume sind.

Die Herzkammer des Kinos

Dieser Stoff liegt in den Händen von Achim Orlia, dem Filmvorführer und Haustechniker des Savoy. Der Vorstellungsbeginn naht, weshalb er mit einem Kollegen den Posten tauscht. Achim geht Richtung Kinosaal. Popcorn-Duft liegt in der Luft. Er biegt rechts ab, entschwindet hinter einem goldenen Vorhang, vorbei an einer James Bond-Pappfigur in Lebensgröße, raus in einen Hinterhof. Eine metallene Wendeltreppe führt ca. 10 Meter hinauf zu einer Tür, die mit einem Zahlencode abgesichert ist. Ein kurzer Durchgang noch, dann ist man angekommen, mitten in der Herzkammer des Kinos: dem Vorführraum.

Hier steht die Technik, die das Bild auf die Leinwand und den Ton in die Lautsprecher zaubert: Server, Dolby-Prozessor-, dts-Decoder, Verstärker, Computer, zwei Projektoren – und ein metallener Filmteller mit drei Ebenen. Alles steht dicht an dicht. Eine Lüftungsanlage sorgt dafür, dass die Geräte auf Betriebstemperatur bleiben. Es surrt und dröhnt. Auf der anderen Seite des dunklen, engen Raumes stehen Werkzeugkästen, Kartons, Filmposter-Rollen. Aus einer seitlichen Wand ragt ein altes Waschbecken aus der Gründungszeit des Kinos (1957). Auf der Innenseite der Tür, die zurück zum Foyer und Kinosaal führt, klebt ein Filmposter. Zwei Minions sind darauf zu sehen, die vor einem Umkleidespind stehen. Darüber steht: „Back 2 Work“.

Savoy-AO

Achim Orlia, 64, ist ein sympathischer, zierlicher Herr mit Brille, bordeaurot-gestreiftem Hemd und blau-grauer Hose. Die Ärmel sind hochgekrempelt, der Blick ist konzentriert. Seit 45 Jahren ist er Filmvorführer, seit fast neun Jahren im Savoy. Als Jugendlicher entdeckte er in seiner Heimatstadt Göttingen die Leidenschaft fürs Kino. Da er sich mit 16 Jahren nicht zu fragen traute, sorgte sein älterer Bruder dafür, dass die beiden einen Blick in den Vorführraum warfen. Achim war sofort fasziniert von der Technik. Wenig später jobbte er im Göttinger Sterntheater als Platzanweiser, verbrachte aber jede freie Minute im Vorführraum. In einer Fachzeitschrift las er vom legendären Savoy in Hamburg mit der riesigen, gebogenen Todd-AO-Leinwand (benannt nach dem Erfinder Michael Todd und dem Unternehmen American Optical).

Savoy: Das erste 70mm-Kino in Europa

Da der Beruf des Filmvorführers in den 1970er Jahren nicht sehr „vernünftig“ erschien, ließ sich Achim zum Maskenbildner ausbilden und zog 1981 nach Hamburg. Nach nur einem Jahr im Ernst-Deutsch Theater, verlor er aufgrund von Personalabbau seine Anstellung – was ihn zurück zum Kino brachte. 14 Jahre in den Mundsburg Kinos, 16 Jahre im CinemaxX-Dammtor – dann wurde die Stelle „wegdigitalisiert“. Nach der Wiedereröffnung 2013 fing er im von Hans Joachim Flebbe wieder mit Leben erfülltem Savoy an – wo er bis heute blieb. Das Savoy begann 2015 damit, 70mm-Filme zu zeigen und knüpfte damit an die eigene Tradition an. 1957 war es das erste 70mm-Kino in Europa.

Achims Augen leuchten, wenn er über die Vorzüge von 70mm spricht: „Die Auflösung und der Kontrast ist höher, die Farbsättigung und Farbtiefe intensiver, die Tiefenschärfe atemberaubend.“ Der Rückgriff auf diese altbewährte Technik bot sich an, da Quentin Tarantino „The Hateful Eight“ herausbrachte, der das 70mm-Format geradezu zelebrierte. Ein Jahr zuvor hatte Christopher Nolan mit „Interstellar“ 70mm überhaupt wieder ins Spiel gebracht. Es folgten „Mord im Orient-Express“ und „Dunkirk“ (2017); „2001: Odyssee im Weltall“ (2018). „Joker“ (2019) und „Tenet“ (2020). Achim gesteht, mehr auf Melodramen und Musicals zu stehen. Er habe eine endlose Liste an Lieblingsfilmen. Spontan fallen ihm „Cinema Paradiso“ und „Das Hochzeitsbankett“ ein.

Der Stoff aus dem die Träume sind

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Ein Philips DP75-Projektor wirft im Savoy das Licht durch das 75mm-Filmmaterial in Richtung Leinwand (Foto: Jérome Gerull)

70mm – das ist eine Zahl, die das Herz von Cineasten höher schlagen lässt. Im Vergleich zum üblichen 35mm-Filmmaterial bietet 70mm mehr als dreimal so viel Fläche und somit mehr Detailreichtum. Bildvergrößerungen gehen mit entsprechend weniger Verlusten einher. Es ist das Maß aller Dinge, ein Breitbildformat, das einen in unvergleichlicher Weise in Traumwelten eintauchen lässt. Wenn eine 70mm-Projektion über die Leinwand flimmert, dann ist dies ein Ereignis, Kino in seiner reinsten Form, in epischer Größe, in magischen Sphären. Die Bildqualität ist außergewöhnlich: 70mm ermöglicht Auflösungen von schätzungsweise bis zu 16K (digitales Maß der Dinge sind derzeit 4K). Wenn Achim Orlia über 70mm zu erzählen beginnt, funkeln seine Augen. Es ist die Mischung aus Nostalgie und Perfektion, die auch ihn sichtlich berührt und packt.

Es ist an der Zeit: Vorsichtig nimmt Achim das innere Ende des eingerollten, auf dem Filmteller liegenden Films und fädelt diesen durch mehrere Rollen, die auf unterschiedlichen Höhen und Distanzen auf einer Apparatur befestigt sind. Sie führen zum vorderen Ende des Projektors und wieder zurück auf die obere Tellerebene, wo der Film wieder aufgerollt wird. 24 Bilder pro Sekunde flattern hier gleich durch Raum und Projektor. Elegant und effizient bewegt sich Achim durch die engen Passagen zwischen Projektor, Filmteller und Wand. Jeder Handgriff sitzt. Er packt zwei Rollen aus einem Karton aus und bindet sie in die Konstruktion ein: „Das sind die guten Geister“, sagt Achim. „PTE-Reinigungsrollen: Mit ihrer speziellen, leicht haftenden Oberfläche reinigen Sie den Film vom Staub.“ Perfektion muss sein. Auf Effekthascherei, mit absichtlich gewollten Staubeffekten, verzichtet Achim.

Erst Zelluloid, dann Polyester, jetzt digital

In sieben Rollen wurde der Film angeliefert. Jede Rolle umfasst etwa 20 Minuten. Achim hat die Teile vorab mit einer Klebepresse und speziellem Tesafilm zusammengeklebt. Gelbe Markierungen zeigen an, an welchen Stellen der Schnitt erfolgte. Die gesamte, fertig zusammengeklebte Rolle wiegt um die 65 Kilo. „Der dts-Ton kommt digital vom Decoder“, sagt Achim. „Ein spezieller Timecode-Reader, durch den der Film ebenfalls hindurchläuft und dafür sorgt, dass der Ton immer synchron ist.“ Als würde er die Frage erwarten, erklärt Achim, dass „Zelluloid aufgrund seiner hohen Entflammbarkeit seit Anfang der 1960er Jahre nicht mehr verwendet“ wird. „Inzwischen bestehen die Filmkopien aus Polyester. Das ist reißfest, kaum entflammbar und umweltfreundlicher.“

Die meisten Filme werden – auch im Savoy – längst digital abgespielt. Die Verleiher senden den Film verschlüsselt auf einer Festplatte an die Kinos. DCP (Digital Cinema Package) nennt sich das Format. Das ist praktikabler und kostengünstiger als die Produktion, der Transport und der arbeitsintensive Einsatz von Filmrollen. Für den Fall, dass die analoge Technik doch mal den Geist aufgibt, läuft ein digitales Backup sicherheitshalber blind mit. „Das ist allerdings noch nie passiert“, sagt Achim. Auf Film, Filmteller (Kinoton ST270) und Projektor (Philips DP75) ist Verlass.

Ein Filmtheater für Cineasten

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Das Savoy, ein Hamburger Filmpalast (Foto: Marco Arellano Gomes)

Das Savoy ist das einzige Hamburger Kino, das analoge Filmkopien in 70mm abspielen kann und zudem eine gekrümmte Leinwand hat. „Der Filmteller stammt vom Grindel-Kino“, erklärt Achim. Und nicht nur das: „Das Savoy wurde vom selben Architekten entworfen.“ Wer das Grindel-Kino liebte (wie der Autor dieses Textes) wird das Savoy sofort in sein Herz schließen. Deutschlandweit gibt es nur wenige Filmtheater, die 70mm-Vorführungen anbieten. Achim schätzt die Anzahl auf „etwa zehn“, wobei nur etwa vier bis fünf – darunter das Savoy – dies regelmäßig tun. Auch das macht jede 70mm-Vorstellung zu etwas Besonderem.

Doch nicht nur für Filmenthusiasten ist das ein außergewöhnlicher Genuss: „Filme in 70mm ziehen deutlich mehr Publikum an“ so Achim. „Durch die englische Sprache haben wir zudem ein sehr angenehmes, gut aufgelegtes Publikum.“ Wer erleben will, was Regisseure wie Christopher Nolan, Quentin Tarantino oder Paul Thomas Anderson wirklich mit ihren Filmen zeigen wollen, sollte die Lichtspielhäuser besuchen, die das Format hierzu haben. Hamburg hat hierfür das Savoy – ein Filmtheater für Cineasten mit technischem Anspruch und Wertschätzung für Tradition.

Das digitale Vorprogramm ist zu Ende. Die Vorhänge schließen sich. Der Augenblick der Wahrheit ist gekommen: Achim drückt den Start-Knopf. Im Saal öffnen sich die Vorhänge wieder. Der Projektormotor brummt, der Filmteller dreht sich, der Film rattert durch den Projektor. Auf der gebogenen, 18×8 Meter großen Leinwand brüllt der MGM-Löwe. Seine Mähne flattert über die Leinwand – hell, scharf, in 70mm.

Savoy Filmtheater


 SZENE HAMBURG Stadtmagazin, Februar 2022. Das Magazin ist ab dem 29. Januar 2022 im Handel und auch im Online Shop oder als ePaper erhältlich!

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