Itsch Itsche Festival: Here to stay

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Foto: Ceren Saner

Melissa Kolukisagil ist im badischen Oberkirch aufgewachsen, studierte in Hamburg Politikwissenschaft und organisiert in ihrem Wohnort Berlin das İç İçe Festival. Ein Gespräch über neue anatolische Musik, (post-)migrantische Kultur und einen Abend Anfang September im Knust

Interview: Ole Masch  

SZENE HAMBURG: Melissa, was heißt İç İçe wörtlich und welche Bedeutung hat der Begriff?

Melissa Kolukisagil: İç İçe, heißt so viel wie „ineinander verschränkt“ oder „miteinander verwoben“ sein. Für uns steht İç İçe für das Verschränken von hybriden Identitäten, das Leben in der postmigrantischen Gesellschaft. İç İçe steht somit auch für die Akzeptanz von Mehrfachzugehörigkeiten. Es geht um einen Raum in dem plötzlich vieles möglich ist.

Wie ist postmigrantische Gesellschaft definiert?

Der Begriff meint, dass unsere Gesellschaft durch die Erfahrung der Migration geprägt ist. So auch die Kulturlandschaft und das, obwohl migrantische Kunst oft nicht ihre Anerkennung erfährt, die sie verdient. Da sie oft nicht gefördert wurde und die Zugänge fehlten. Allmählich ändert sich das und İç İçe ist Teil von dieser Veränderung. Aber auch nur möglich, weil Jahre zuvor andere migrantische Personen schon hervorragende Arbeit geleistet haben. Es geht um politische, kulturelle und soziale Veränderungen, welche durch die Einwanderung, auch im Kontext der Gastarbeiter:innen, hervorgehen.

Wie könnte eine größere Anerkennung gelingen?

Eine große Schwierigkeit ist weiterhin die Diskriminierung von Menschen mit einem migrantischen Hintergrund. Die gesellschaftliche Akzeptanz, welche leider noch nicht vorhanden ist, entsteht auch aus der Tatsache, dass die Räume nicht gegeben sind. Deswegen arbeitet İç İçe daran, diese zu schaffen, um Menschen eine Möglichkeit zu geben gesehen und gehört zu werden, aber wo sie auch einfach ausgelassen feiern können.

Warum sind diese Räume so wichtig?

In eigenständigen Räumen kann Kunst entstehen, die freier ist von den Erwartungen der Dominanzgesellschaft. Hier kann kulturelles Leben selbstbestimmter stattfinden und Solidarität zwischen unterschiedlichen Communitys wachsen. Nur wenige andere Städte in Deutschland stehen so sehr für postmigrantische Kultur wie Berlin. Doch auch hier ist es für postmigrantisch kulturelle Räume schwer zu überleben oder gar zu entstehen – sei es aufgrund der rasanten Gentrifizierung, die Innenstädte homogenisiert oder einer weißen Kulturförderlandschaft.

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Was ist das Neue an „neuer anatolischer Musik“?

Die anatolische Region ist seither ein Schmelztiegel für diverse kulturelle Strömungen und Musiktraditionen. Spätestens seit den 60er-Jahren entfalten sich diese in unserer unmittelbaren Nachbarschaft neu und beeinflussen, vom Underground bis in die Popkultur, unseren Alltag und das Nachtleben. Das „Neue“ daran ist, die Art und Weise wie Menschen die kulturellen Fragmente ihrer Herkunft neu interpretieren und sich innerhalb der Gesellschaften, die sie beheimaten, Platz verschaffen.

Was macht den Sound aus?

Neue anatolische Musik – es ist absichtlich offengehalten und kann alles sein. Es geht darum, Raum zu lassen für die Interpretation der Künstler:innen, die vor allem in zweiter und dritter Generation in der Diaspora leben. Anatolische Musik ist divers aufgestellt. Es variiert von Musik durch klassisch anatolische Instrumente wie der Bağlama, aber findet sich auch im Rap von beispielsweise Apsilon wieder, da Apsilon in Texten Fragen von Identität und Mehrfachzugehörigkeiten verhandelt. Da die anatolische Region schon immer ein Schmelztiegel war, ist eine konkrete Antwort schwer, anatolische Musik kann und darf alles sein. Wir möchten vor allem mit der oft eindimensionalen Erwartung brechen, wie anatolische Musik klingen soll.

Wie kamst du auf die Idee, daraus ein Festival zu machen?

Meine musikalische Sozialisation fand als Kind auf türkischen Hochzeiten statt. Aufgewachsen bin ich mit türkischen Pop-Hits. Natürlich muss hier Takan erwähnt werden, aber auch Klassiker wie Orhan Gencebay, den ich heute aufgrund seiner politischen Positionierung kritisch betrachte, waren Teil meines damaligen Repertoires. Das Lied „Kaderimin Oyunu“ von Orhan Gencebay hat bis heute eine besondere Bedeutung, denn es begleitete die Autoreise meiner Mutter, als diese als Braut aus der Türkei nach Deutschland kam.

Meine Mutter hat viel gesungen, was mich auch geprägt hat. In der Pubertät habe ich irgendwann fast gar keine anatolische Musik mehr gehört und befand mich irgendwo zwischen Auflehnung gegen meine Familie und Protest gegen die weiße Dominanzgesellschaft. Als ich dann auf einem Festival war und Altın Gün gehört habe, war das eine ganz besondere Erfahrung zu sehen, wie die Lieder, die ich aus meiner Kindheit kannte, von allen gefeiert wurden. Als ich selber begann in der Veranstaltungsbranche zu arbeiten, erlebte ich diese als sehr weiß, männlich und hierarchisch. Das war kein Umfeld, in dem ich bleiben wollte und deswegen mit İç İçe den Raum schaffen, der mir, beziehungsweise uns, fehlt.

Wer steckt noch dahinter?

İç İçe ist ein Team von insgesamt sieben Leuten. Wir arbeiten gemeinsam an dem Projekt mit viel Herz. Wir sind zudem ein sehr diverses Team, was nicht nur für uns persönlich, aber auch für İç İçe sehr gewinnbringend ist, da wir viele Perspektiven einbinden können. 

„Zwischen anatolischer Hochzeit und Technoclub“

Nun kommt ihr von Berlin nach Hamburg. Wie ist das entstanden?

Es war überwältigend, die Resonanz zu sehen und auch die Wichtigkeit, dass diese Räume existieren und geschaffen werden. Unser Publikum kam für İç İçe in Berlin aus ganz Deutschland angereist, kein Weg war unseren Besucher:innen zu weit. Der Wunsch, dass wir diesen Raum ausweiten können, ist damit weiter gewachsen und jetzt haben wir die Ehre in Hamburg dies zu ermöglichen. Tim aus dem Knust kam hierfür auf uns zu und ist ein toller Partner für die erste Ausgabe außerhalb Berlins.

Wie ist der Abend aufgebaut?

Er wird eine gewisse Dramaturgie haben. Mir ist es wichtig, nicht nur ein Konzert nach dem anderen zu zeigen, es soll um die Inhalte, das Gefühl gehen. Wir haben ein Programm gestaltet, welches ein Konzept der Plattform aufgreift und den Raum der Vernetzung erzeugt. Wir werden wunderbare Konzerte von zum Beispiel Nalan sehen. Gegen Abend werden dann auch DJs wie Hülya aus Hamburg auflegen. Adir Jan verschränkt Texte über homosexuelle Liebe mit mitreißenden psychedelischen Sounds von „klassisch“ anatolischen Instrumenten. Oder DJ Ipek, die immer einen tollen Mix hinbekommt – zwischen anatolischer Hochzeit und Berliner Technoclub.

Wie wählst du die Künstler:innen aus?

Das Line-up setzt sich aus vielen Aspekten zusammen. Ich möchte es schaffen, die ganze Bandbreite zu zeigen. Da anatolische Musik sehr breit zu denken ist, hat man da Spielraum. Wichtig ist uns auch, dass 60 Prozent des Line-ups keine cis männlichen Acts sind. Wir wollen Diversität leben, nicht nur denken.

Du hast in Hamburg studiert. Hast du damals bereits Einflüsse anatolischer Musik in der Clubkultur mitbekommen?

Ich habe mit dem Uni-Leben, um ehrlich zu sein, sehr gefremdelt. Ich habe mich arm und stark verunsichert gefühlt und trotzdem mein ganzes schmales Einkommen in Konzertkarten gesteckt – im besten Sinne in den Live-Konzert-Ort Hamburg. Manchmal war ich in einer Woche auf drei Konzerten, viel im Uebel & Gefährlich, im Molotow, in der Markthalle oder eben im Knust. Indie, Electronica und Singer-Songwriter war meine Musik. Einen Zugang zu anatolischer Musik und Communitys hatte ich nicht, es war eine andere Zeit, ich stand auch noch an einem anderen Punkt in meinem Leben. Der einzige Kontakt zu migrantischen Communitys war meine Arbeit am Hauptbahnhof an der Supermarktkasse. Ich finde es toll, jetzt nach Hamburg zurückzukommen und den Eindruck zu haben, dass auch Hamburg sich offener für mich zeigt und ich der Stadt womöglich was geben kann.

Wird es noch weitere İç İçe Festivals geben?

Wir merken immer mehr, wie der Wunsch und die Nachfrage an unserem Programm steigt. Pläne haben wir viele. Wir sind mit Städten wie München und Heidelberg im Gespräch. So viel kann gesagt werden: İç İçe is here to stay.

2.9., Knust, 18 Uhr; itsch-itsche.com


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