Kritik
Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral, wusste schon Bertolt Brecht. Moral kann sich leisten, wer satt ist, sagte er damit, deswegen ist es Heuchelei, wenn die hohe Schicht der niedrigen Schicht Moral predigt.
Anke Stellings Protagonistin Resi rechnet mit der „Scheinheiligkeit der Mittelschicht“ und den materiellen Widersprüchen in ihrem Milieu ab, dem linksliberalen Bürgertum in Prenzlauer Berg. „Schäfchen im Trockenen“ ist eine Wutrede im Dienste der Aufklärung. Beißend schreibt Resi über gut situierte Mittvierziger mit postmateriellen Idealen, laut denen alle gleich sind und somit auch die gleichen Chancen haben – wo bei die finanzielle Realität ganz anders aussieht. Auch für Resi.
Die Ehefrau und Mutter von vier Kindern kämpft mit den gesellschaftlichen Erwartungen. Immer wieder merkt sie, dass sie, als Kind aus prekärem Elternhaus und erfolglose Autorin, nicht in diese Mittelklasse passt. Es ist ihr Widerspruch: Resi kritisiert das Leben ihrer privilegierten Freunde, hat gleichzeitig aber Angst vor dem Statusverlust und dem gesellschaftlichen Abstieg. Sie ist „eine Wandlerin zwischen den Welten, eine Mutter, die ihre Armut verbirgt.“ Wie schon ihre eigene Mutter, die vergeblich versuchte, dazu zugehören und sich anzupassen.
In ihrer spartanisch eingerichteten Kammer schreibt Resi einen Brief für ihre 13-jährige Tochter Bea, der sie schonungslos die Wahrheit über die „neoliberale Gehirnwäsche“ erzählen will. Ungehemmt schreibt sie über die Desillusionierung des Jugendtraums von einem linksalternativen Leben, über die Ernüchterungen, die hinter der Fassade des gelungenen Erwachsenendaseins stecken – Work-Life-Balance, verheiratet, zwei Kinder und ein Hund. Resi schreibt über alles, was verschwiegen wird: das Gefängnis des Ehe und Familienlebens, Geburten mit damit einhergehenden Dammrissen, Überforderung, Existenzängste – und gesellschaftliche Ungleichheit.
Als sie das Schweigen zuvor schon einmal brach und das Baugruppenunternehmen ihrer Freunde in einem Buch öffentlich anprangerte, stellte sie fest: „Bei Geld hört die Freundschaft auf.“ Eines Tages fand sie die Kündigung des einst freundschaftlichen Untermietverhältnisses zwischen ihr und dem Mann ihrer besten Freundin vor. „Wer in der finanziellen Hierarchie unten steht, muss sich überlegen, wohin er austeilt“, konstatiert sie. Resi fehlen die finanziellen Mittel, um sich weiterhin eine Wohnung in der Innenstadt leisten zu können. Die Familie muss in den „Höllenkreis außerhalb des Berliner S-Bahn-Rings“ ziehen, wo „übergewichtige, in Polyester mit Aufdruck gekleidete Leute ihre Kinder im Buggy RedBull-Imitate trinken lassen“.
Resis Name bedeutet über setzt „Redefreiheit“. Passend dazu kritisiert sie unaufhörlich eine Mittelklasse, in der man sich stets korrekt verhalten muss, den anderen keine Angriffsfläche bieten darf und in der sogar Wörter und Sätze aus dem Repertoire gestrichen werden, weil ansonsten die Verbannung droht. „Schäfchen im Trockenen“ ist ein wichtiger Roman, der aufzeigt, wie maßgebend die Schichtzugehörigkeit ist.
/ Ingrun Gade