24.03. | Literatur | Schäfchen im Trockenen | Anke Stelling

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Kritik

Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral, wusste schon Bertolt Brecht. Moral kann sich leisten, wer satt ist, sagte er da­mit, deswegen ist es Heuchelei, wenn die hohe Schicht der nied­rigen Schicht Moral predigt.

Anke Stellings Protagonistin Resi rechnet mit der „Schein­heiligkeit der Mittelschicht“ und den materiellen Wider­sprüchen in ihrem Milieu ab, dem linksliberalen Bürgertum in Prenzlauer Berg. „Schäfchen im Trockenen“ ist eine Wutrede im Dienste der Aufklärung. Bei­ßend schreibt Resi über gut situ­ierte Mittvierziger mit postma­teriellen Idealen, laut denen alle gleich sind und somit auch die gleichen Chancen haben – wo­ bei die finanzielle Realität ganz anders aussieht. Auch für Resi.

Die Ehefrau und Mutter von vier Kindern kämpft mit den ge­sellschaftlichen Erwartungen. Immer wieder merkt sie, dass sie, als Kind aus prekärem El­ternhaus und erfolglose Autorin, nicht in diese Mittelklasse passt. Es ist ihr Widerspruch: Resi kritisiert das Leben ihrer privile­gierten Freunde, hat gleichzeitig aber Angst vor dem Statusverlust und dem gesellschaftlichen Abstieg. Sie ist „eine Wandle­rin zwischen den Welten, eine Mutter, die ihre Armut verbirgt.“ Wie schon ihre eigene Mutter, die vergeblich versuchte, dazu­ zugehören und sich anzupassen.

In ihrer spartanisch einge­richteten Kammer schreibt Resi einen Brief für ihre 13­-jährige Tochter Bea, der sie schonungslos die Wahrheit über die „neoliberale Gehirnwäsche“ erzählen will. Ungehemmt schreibt sie über die Desillusionierung des Jugendtraums von einem linksalternativen Leben, über die Ernüchterungen, die hinter der Fassade des gelungenen Erwachsenendaseins stecken – Work-­Life-­Balance, verheiratet, zwei Kinder und ein Hund. Resi schreibt über alles, was verschwiegen wird: das Gefängnis des Ehe­ und Familienlebens, Geburten mit damit einherge­henden Dammrissen, Überforderung, Existenzängste – und gesellschaftliche Ungleichheit.

Als sie das Schweigen zu­vor schon einmal brach und das Baugruppenunternehmen ihrer Freunde in einem Buch öffentlich anprangerte, stellte sie fest: „Bei Geld hört die Freund­schaft auf.“ Eines Tages fand sie die Kündigung des einst freundschaftlichen Untermietverhält­nisses zwischen ihr und dem Mann ihrer besten Freundin vor. „Wer in der finanziellen Hierarchie unten steht, muss sich überlegen, wohin er austeilt“, konstatiert sie. Resi fehlen die finanziellen Mittel, um sich weiterhin eine Wohnung in der Innen­stadt leisten zu können. Die Familie muss in den „Höl­lenkreis außerhalb des Berli­ner S­-Bahn-­Rings“ ziehen, wo „übergewichtige, in Polyester mit Aufdruck gekleidete Leute ihre Kinder im Buggy Red­Bull­-Imitate trinken lassen“.

Resis Name bedeutet über­ setzt „Redefreiheit“. Passend dazu kritisiert sie unaufhörlich eine Mittelklasse, in der man sich stets korrekt verhalten muss, den anderen keine Angriffsfläche bie­ten darf und in der sogar Wörter und Sätze aus dem Repertoire ge­strichen werden, weil ansonsten die Verbannung droht. „Schäf­chen im Trockenen“ ist ein wich­tiger Roman, der aufzeigt, wie maßgebend die Schichtzugehö­rigkeit ist.

/ Ingrun Gade

Verbrecher Verlag, 202 Seiten, 22 Euro


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24. März 2021
05:59
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