Schon vor Aufführungsbeginn schlagen die Emotionen hohe Wellen im Ernst Deutsch Theater, wo Regisseur Erik Schäffler mit seiner Bühnenfassung von Daniel Kehlmanns Roman „Tyll“ die neue Spielzeit einläutet. Intendantin Isabella Vértes-Schütter dankt mit Blick auf die Coronazeit dem anwesenden Kultursenator Carsten Brosda für dessen „unglaubliche Kompetenz und gewaltiges Engagement“. Im Zuschauersaal wurde jede zweite Stuhlreihe entfernt. Man sitzt auf Abstand – und nach fünf Monaten Zwangspause erstmals wieder in einem Theater!
Das fühlt sich gut an, zumal Schäffler und seinen acht Schauspielern, die in rund 40 verschiedenen Rollen brillieren, das Kunststück glückt, Kehlmanns Bestseller in einen rasanten Bühnenmärchenzauber zu verwandeln, dem es trotz der düsteren Umstände des Stationendramas nicht an Witz fehlt: Nachdem sein Vater als Ketzer hingerichtet wurde, zieht Tyll Ulenspiegel zusammen mit Bäckerstochter Nele als Gaukler und Narr durchs Land. Ein Wachturm und Ansammlungen zersägter Baumstämme deuten die allgemeine Zerstörung zurzeit des Dreißigjährigen Krieges an, der mit seinen Epidemien und gesellschaftlichen Umbrüchen auch Parallelen zu Jetztzeit erlaubt. Roh und unbehauen wie das Holz, sind auch die Menschen, die das Stück uns zeigt.
Rune Jürgensen und Sven Walser verdichten die Figur des Tyll im Wechsel zu einem unbändigen Bündel anarchischer Energie. An Tylls Seite reift Ines Nieri als Nele vom naiven Mädchen zur eigenständigen Frau. Oliver Hermann überzeugt unter an derem als eiskalter Jesuit Athanasius Kircher und in der Rolle des selbstgefälligen Großkotz – eine Parodie auf Schwedenkönig Gustav Adolf. Auch Bänkelsänger Oliver Pätz, der als sprechende Esel ebenfalls gute Figur macht, und die bestens aufgelegte Mignon Remé, die als Königin Elisabeth herrlich herablassende Posen einnimmt, machen die Inszenierung zu dem, was sie ist: Zu einem exzellent besetzten Historienspektakel mit Musik, Tanz, Possen und Puppenspiel sowie einem Schnelldurchlauf durch die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Wer hier alle Feinheiten mitbekommen möchte, sollte allerdings lieber zur Buchvorlage greifen.
/ Sören Ingwersen
Ernst Deutsch Theater
15.9.2020, 19:30 Uhr
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