Das Haltbarkeitsdatum eines Zeitgeistes ist selten zweifelsfrei festzustellen. Man kaut gesamt-gesellschaftlich eher zu lang auf ihm herum wie auf altem Kaugummi, bis er den Geschmack verloren hat. So ist es uns mit der Ironie gegangen. Aber jetzt kommen sie endlich: die Antworten darauf, was denn nun bitte schön werden soll nach der Allzweckwaffe Ironie, die zwischen uns und die Welt so einen angenehmen Sicherheitsabstand gebracht hat. Tom Müllers Roman „Die jüngsten Tage“ ist so eine Antwort.
Müllers Protagonist Jonathan Buck hat zwei unangenehme Aufgaben vor sich. Die erste: in einen Zug von Hamburg nach Berlin steigen und der Mutter seines besten Jugendfreundes Strippe erklären, wie Strippe gestorben ist. Die zweite: sein Leben auf die Reihe kriegen. Das hat sich mit Strippes Tod aufgelöst: Job und feste Beziehung, die offiziellen Ausweise eines geglückten Erwachsenenlebens, hat Jonathan aufgegeben. Und versteckt sich seitdem bei Elena in Hamburg, trinkt Gin mit Thymiantee und verliebt sich in Elena.
Mit Strippe hat vor dreißig Jahren alles angefangen: Ostberliner Nachwendejugend, sie sind Stürmer und Dränger gewesen, Wildpinkler und Mädchenverführer. Aber dann wird ihr Bürgerzentrum abgerissen, Wahlheimat und Verteidigungsanlage gegen die große Langeweile eingetauscht, und auch Strippe und Jonathan finden sich genau dort wieder, wo sie nie hinwollten: in geordneten Bahnen.
„Ein Leben draußen schien uns wenig erstrebenswert“, sagt Jonathan über alles, was außerhalb des Bürgerzentrums liegt – und somit auch außerhalb der Anarchie des Jungseins. So ergeht es ihm auch in Elenas Wohnung – er will da am liebsten nicht mehr raus. Aber Elena setzt ihm die Pistole auf die Brust und Jonathan in den Zug nach Berlin. Jedoch endet jede Zugfahrt noch vor dem Zielbahnhof, so oft Jonathan es auch versucht. Die verhinderten Zugfahrten werden zum Sinnbild für seine Realitätsverweigerung: Er richtet sich im Dazwischen ein. Weder kann er zurück in die Kindheit, noch ist er bereit, endgültig in der Gegenwart anzukommen.
Tom Müller traut sich mit Kopfsprung, nein, Arschbombe in das postironische Zeitalter. Er erzählt von der Inbrunst der Jugend mit Liebe und Zorn, wild und weich. Die Form des Romans wird mal rabaukig, mal leise ausgelotet, mit dem Spieltrieb eines Kindes und dem zärtlichen, uneitlen Witz derer, die auf die Fantastereien und die grandiosen Fettnäpfchen der Jugend blicken können, ohne je ganz abzustreifen, was sie gewesen sind: Kinder.
/ Leona Stahlmann
Tom Müller: „Die jüngsten Tage“, Rowohlt, 240 Seiten, 22 Euro
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