13.11. | Literatur | Im Heimweh ist ein blauer Saal | Herta Müller

Herta Müller schneidet Wörter und Bilder aus Zeitschriften aus und klebt sie auf Karteikarten zusammen, so entstehen ihre Wörtercollagen.
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Poetisches Schreiben mal anders: Optisch erinnert Herta Müllers Technik an Morddrohungen oder Erpresserbriefe. Die Literaturnobelpreisträgerin schneidet Wörter und Bilder aus Zeitschriften aus und klebt sie auf Karteikarten zusammen, so entstehen ihre Wörtercollagen. In ihrem Lyrikband „Im Heimweh ist ein blauer Saal“ ist dementsprechend jedes Wort in einer unterschiedlichen Größe, Schrift und Farbe. Die Texte kommen nicht aus einer inneren Inspiration heraus, viel- mehr kreieren die Worte selbst die Texte – sagt Müller selbst, und beschreibt ihre Technik als eine sehr sinnliche Arbeit, denn jedes Wort muss von ihr angefasst werden, und jedes Wort ist durch die Form einzigartig.

Die gesammelten Wörter stapeln sich in ihrer Wohnung, Müller selbst sieht dies als das Gegenteil von Zensur oder Repression an, für sie symbolisieren die frei herumliegenden Wörter (Rede-)Freiheit. 1987 floh sie aus Rumänien vor der kommunistischen Diktatur, in der sie mit Armut und Unterdrückung zu kämpfen hatte, nach Westdeutschland in ein demokratisches, flirrendes Land des Überflusses, in dem Zeitschriften in all ihrer Farbenpracht frei herumliegen durften.

Durch das Heraustrennen der einzelnen Wörter „befreit“ sie die Wörter aus ihrem ursprünglichen Kontext und lässt sie als Individuen existieren. Jedes Wort hat seine Dinglichkeit. So entstehen oft ungewöhnliche, vom Zufall geleitete Wörter und Reime, die der Optik wegen recht holprig zu lesen sind. Es gibt weder ein metrisches Maß noch einen Zeilenfall, die Reime sind „unaufdringlich“ ins Gedicht eingebaut, nicht wie sonst am Versende. Auch die Satzzeichen fallen weg, nur hie und da ist noch eines hängen geblieben am vorherigen Wort.

Bei genauerer Betrachtung sind diverse Binnenreime und Assonanzen zu erkennen sowie etliche Neologismen („Heimwehgift“), Oxymora, Aphorismen, Sentenzen und allgemein syntaktische Strukturen: „Der Beamte sagte Heimweh lädt Schuld auf sich / nimms nicht persönlich / Zehen aus Perlmutt im heißen Schnee gehen auch ohne mich, flüsterte ich.“

Selbstverständlich finden sich auch inhaltlich Motive aus Müllers Biografie und ihren vergangenen Werken wieder: Heimat, Fremdsein, Flucht und Furcht. Müller zeigt, wie sich die Diktatur auf Menschen auswirkt, oftmals nutzt sie hierfür Naturbeschreibungen. „Im Heimweh ist ein blauer Saal“ ist ein über die Lyrik hinausreichendes Kunstwerk. Es ist kein Buch zum „Einfach mal weglesen“; die Wortspielereien sind an sich faszinierend und können aus purer Lust an der Sprache genossen werden, doch es braucht Zeit und Muße, um so manchen Sinnzusammenhang verstehen zu können.

/ Ingrun Gade

Herta Müller: „Im Heimweh ist ein blauer Saal“, Hanser, 128 Seiten, 22 Euro.


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13. November 2020
14:59
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