Kritik
Text: Ingrun Gade
Herrlich makabres Island-Epos
Das Eisland ist das am dünnsten besiedelte Land Europas, voller Vulkane, Fjorde, Wasserfälle und, wer hätte es gedacht: Eis, soweit das Auge reicht. Richtig, es handelt sich hierbei um das sagenumwobene Island. Hinter dieser spektakulären Kulisse begleiten wir in Hallgrímur Helgasons neuem Roman – welcher mit dem Isländischen Literaturpreis für den besten Roman des Jahres ausgezeichnet wurde – den kleinen Gestur von Kindesbeinen an auf seinem Lebensweg. Gestur ist ein unehelicher Bauernsohn aus dem fiktiven isländischen Dorf Segulfjörður. Obgleich er jeder seiner Familien puren „Sonnenschein“ bringt, wird er von einem Ziehvater zum nächsten abgeschoben.
Von der Entstehung diverser Aberglauben, Orts- und Fjordnamen, bis hin zum Hass der Isländer gegen schönhaarige Menschen, ist das Buch voll gepackt mit isländischer Geschichte. Derweilen steht für Helgason die Mentalität dieses zähen und gleichsam sturen Volks voller „unverbrüchlichem Optimismus“ fortwährend im Vordergrund. Gerne wird immer wieder ihre Vorliebe zum Vollrausch thematisiert, während sie dem Leben in stetiger Furcht vor Schneestürmen, Flutwellen und Lawinen strotzen.
Der Autor beschreibt auf unglaublich witzige Weise und mit herrlich makaberem Humor, wie sich nach und nach die Moderne in das Land einschleicht, sei es mit andersartigen Konstruktionen oder neuen Handelsideen.
Dann und wann stolpert der Leser über unrealistische Szenen, etwa Gesturs tote Mutter, die im Sarg zu ihrem Mann auf See geschwemmt wird. Oder Gestur selbst, der als Knirps im Alter von zwei Jahren eher Züge eines „pragmatischen Realpolitikers“ aufweist und keine Schwierigkeiten mit komplexen Sätzen zu haben scheint. Zeitgleich wird auf seinen Niedlichkeitsfaktor gesetzt, der manchmal in Kitsch abrutscht.
Helgasons Schreibstil ist der damaligen Zeit entsprechend, allerdings stets mit einem ironisch-spöttischen Unterton. „Eilífur hatte sich bis dahin nie um des Sohnes Pinkeln kümmern müssen und war überrascht, welch kräftiger Strahl aus einem so kleinen Hahn kam.“ Gleichzeitig schlägt der Autor mithilfe fantasiereicher Metaphern Brücken in die Moderne und scheint eine Vorliebe für die grobe Seemannssprache zu haben: „[…] und die Arktis furzte mehr als je zuvor.“
Hallgrímur Helgason: „60 Kilo Sonnenschein“, Klett Cotta, 570 Seiten, 25 Euro
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