Anne Pretzsch ist Performance-Künstlerin und Mentorin. Zusammen mit Schüler:innen des Hamburger Emilie-Wüstenfeld-Gymnasiums (EWG) hat sie die Performance-Aktion „100 Tage gegen Rassismus“ umgesetzt. Dabei setzen sich Schüler:innen kreativ für mehr Gleichberechtigung in der Gesellschaft ein und fragen sich: Was ist Rassismus?. Pünktlich zum Jahresbeginn gehen sie mit ihrem digitalen Kunstprojekt an die Öffentlichkeit.
SZENE HAMBURG: Frau Pretzsch, wann haben sie das letzte mal Rassismus miterlebt?
Neulich im Bus bei einer Fahrkartenkontrolle. Da wurde mit einer von mir als Person of color gelesenen Person laut und langsam gesprochen, obwohl diese Person perfekt Deutsch sprach.
Ihr Projekt „100 Tage gegen Rassismus“ am Emilie-Wüstenfeld-Gymnasium ist mit Jahresbeginn in die finale Phase gekommen, wie kam es zu der Idee zu dem Projekt?
Mich interessiert es mit Kindern und Jugendlichen politisch zu arbeiten. Die Arbeiten und Performances, die ich mache, sind immer sehr politisch. Mir ist es erstens wichtig, die Bühne für relevante Themen zu nutzen und zweitens konnten wir den Jugendlichen mit dieser Produktionsform eine Menge Freiheiten ermöglichen. Ich habe gemerkt, dass ich generell Lust habe, in freien Projekten mit Schulen und Lehrenden zu arbeiten.
„Nichts davon wurde von unserer Seite initiiert“
Haben die ‚Kids‘ denn Lust auf das Thema?
Total. Es gab zum Beispiel einen Vorfall mit einer Lehrkraft. Daraufhin haben sich die Kids sehr engagiert. Es ging sowohl darum, der Lehrkraft zu erklären, was dort gerade passiert ist, als auch rassistische und diskriminierende Strukturen aufzudecken. Die Schüler:innen haben als Reaktion zum Beispiel die Lehrbücher überprüft oder bemängelt, dass Kolonialismus im Lehrplan nicht vorkommt. Es wurde sogar ein Brief an den Schulsenator Thies Rabe verfasst. Nichts davon wurde von unserer Seite initiiert.
Die Schüler:innen haben sich über Monate hinweg kreativ mit dem Thema Diskriminierung auseinandergesetzt. Wie hat das genau ausgesehen?
Wir haben den Kids das Projekt erst einmal vorgestellt und die Themen im Unterricht bearbeitet. Die Schüler:innen haben sich dann komplett selbstständig weiter eingelesen. Unterstützung gab es dabei von den Expert:innen von We A.R.E. e.V., einer Initiative zur frühkindlichen antirassistischen Erziehung und Bildung. Dazu kamen dann noch Workshops zu den verschiedenen Themen und auch die Schulbibliothek wurde und wird zu diesem Thema aufgestockt. So gibt es in Zukunft genügend Informationsmaterial, Sachbücher, Romane und Lyrik BiPoC (Schwarz, Indigen und der Begriff People of Color Anm. d. Red.) Autor:innen und die Kids können sich weiter gegenüber Diskriminierung sensibilisieren.
„Weiße Menschen sind rassistisch sozialisiert“
Das Kunstprojekt ist in mehrere Phasen aufgegliedert.
Ja, auf die erste Input-Phase folgte die Produktionsphase. Hier haben wir Performances und Formate entwickelt, wie zum Beispiel Plakate oder Hörspiele. Dann ging es fließend in die dritte Phase über, die seit Anfang des Jahres läuft. In dieser Phase werden die Ergebnisse präsentiert, sei es über Postings oder über diverse Präsentationen auf unserer eigenen Website. Die Klassen produzieren weiter und gleichzeitig finden Uploads statt.
Wurden von Rassismus betroffene Menschen in die Konzeption des Projekts mit eingebunden?
Die Kids haben bei der Vorstellung des Projektes sofort gesagt, dass wir weiß sind und das Projekt daher nicht machen könnten. Das fand ich super, denn das ist auch eine Frage, die ich mir stelle. ‚Darf ich?‘ oder ‚sollte ich so ein Projekt initiieren?‘ Für 100-Tage arbeiten wir eng mit People of Color zusammen, das Projekt Rapfugees hat gerade die Patenschaft übernommen.
Weiße Menschen wie ich sind rassistisch sozialisiert und ich sehe es nicht nur als die Aufgabe von Menschen mit rassistischer Diskriminierungserfahrung, unseren Rassismus aus dem System zu bekommen. Genauso ist es auch die Aufgabe von Männern, andere Männer darauf hinzuweisen, dass sie sexistisch sozialisiert sind.
Die wilde Kraft der jungen Menschen
Die Schüler:innen sind in der künstlerischen Ausgestaltung sehr frei. Medium und Ausdrucksform dürfen selbst gewählt werden. Gibt es trotzdem Grenzen oder No-Gos?
Klassische No-Gos gibt es schon. Das sind insbesondere Dinge, die die Kinder noch nicht kennen. Wir erklären dann zum Beispiel, warum die Reproduktion von Rassismen nicht gut ist, warum so etwas wie Blackfacing diskriminierend ist. Wir treten dabei aber auch in einen offenen Dialog. Ansonsten sehe ich gar keinen Grund, künstlerischen Prozessen Grenzen zu setzen, solange nichts diskriminierend ist. Wenn die Schüler:innen sagen: „Wir brauchen eine Drohne“ oder „wir möchten einen Tisch kaputt schlagen, weil uns das alles so wütend macht“, dann müssen wir das irgendwie möglich machen. Das sehe ich als meine Aufgabe, dann muss ich die Kohle dafür besorgen.
Im Frühjahr 2019 haben antifaschistische Sticker in der Ida-Ehre-Schule direkt um die Ecke für große Diskussion gesorgt. Die Schulaufsicht ließ die Sticker entfernen und die AfD rief ein „Petz-Portal“ ins Leben. Sollten sich Schüler:innen aus ihrer Sicht auch eigenständig politisch antifaschistisch positionieren?
Ich finde es immer gut, wenn junge Menschen anfangen, selbstständig zu denken. Dazu gehört für mich auch, eine politische Haltung zu entwickeln. Es gehört aber auch dazu zu reflektieren, wie ich diese vortrage, wie ich mich benehme und wie ich in diesem Kontext spreche. Wenn einem jungen Menschen eine Ungerechtigkeit auffällt – nicht nur im politischen Kontext – dann kommt auf einmal so eine wilde Kraft. Das ist gut. Aber ich empfinde es eher als die Aufgabe von Lehrenden zu gucken, wie diese kanalisiert werden kann. Kunst ist mein Angebot, um aus dieser Kraft zum Beispiel eine Performance, ein Hörbuch, einen guten Text oder ein Bild zu schaffen.
„Menschen sind nicht neutral“
Oft wird gefordert, dass Schule ein neutraler Ort sein sollte. Wie sehen Sie das?
Ich finde, es ist eine Illusion, dass irgendein Ort, wo Menschen sind, ein neutraler Ort sein könnte. Menschen sind nicht neutral. Natürlich muss ich Schüler:innen nicht politisch anstacheln. Ich muss nicht sagen: ‚Zieht euch alle schwarze Klamotten an und kommt mit mir auf eine Demo.‘ Da gibt es vielleicht eine Grenze. Aber ich kann nicht behaupten neutral zu sein oder neutral sein zu wollen. Wo sind dann die Grenzen des Politischen? Wenn ich Jungs in meiner Klasse auffordern zu gendern, ist das dann schon politisch? Ist mein ganzes Auftreten als weiße Frau politisch? Das alles ist schon nicht neutral.
Wie geht es mit dem Projekt nach Abschluss der Produktionsphase weiter?
Die Website wird an die Schule übergeben und diese übernimmt dann die Kuration. Das Projekt wird dann dadurch geöffnet, dass andere Schulen eingeladen werden, sich an dem daran zu beteiligen. Am EWG wird gerade eine Antidiskriminierungs AG eingerichtet und diese kümmert sich dann vermutlich um die Einsendungen. Ich fände es großartig, wenn diese Plattform so breit genutzt wird, dass am Ende eine Sammlung von Hamburger Schulen entsteht. We will see…