Charly Hübner spricht im Interview über europäische Ghettos und seine Rolle in Dostojewskijs „Schuld und Sühne“. Premiere: 30.5., Schauspielhaus
SZENE HAMBURG: Vor einem Jahr hat Karin Henkel im Malersaal „Schuld“ inszeniert, den ersten Teil des Romans „Schuld und Sühne“. Kommt mit dem Stück „Schuld und Sühne“ im großen Haus nun die Fortsetzung?
Charly Hübner: Nein, das wäre zu einfach. Karin Henkel beginnt die Erzählung zwar mit Raskolnikows Mord an der Pfänderin, womit „Schuld“ aufhörte. Gedanken aus diesem Stück werden auch vorkommen, aber es ist ein eigenständiger Theaterabend. Es gibt die gleichen Kostümbildner, Musiker, Schauspieler, aber die Rollen teilen sich anders auf.
Kannst du uns noch mehr über die Inszenierung verraten?
Dafür ist es zu früh. Das beeindruckende an dem Roman ist ja, das man immer dann, wenn der Eindruck entsteht, es ist eine lineare, klar von vorne nach hinten erzählte Geschichte, Dostojewskij diese verzerrt und irrationalisiert. Und dann fragt man sich, hat das alles wirklich stattgefunden oder ist es alles nur ein Fiebertraum – oder beides? Und diesem Eindruck nähern wir uns jetzt in den Proben.
Der Ermittlungsrichter Porfirij und der Mörder Raskolnikow sprechen darüber, ob ein Mensch das Recht zu töten hat.
Genau. Raskolnikow ist hochintelligent, muss aber aus finanzieller Not sein Studium abbrechen. Aus seiner Verzweiflung heraus begeht er einen Mord. Da stellt sich die Frage: Gibt es gewöhnliche und außergewöhnliche Menschen? Gibt es Menschen, die das Recht haben, jemanden zu töten, weil sie damit für die Zukunft der Menschheit etwas Gutes tun? Die Debatte um moralische Richtigkeit wird bis heute geführt, aktuell im Ukraine-Konflikt, im Umgang mit Flüchtlingen, die in Europa Zuflucht und bessere Lebensbedingungen suchen, oder bei dem „Feldzug“ des Islamischen Staates. Haben Menschen das Recht, anderen die Existenz abzusprechen und ihnen diese zu nehmen? Der IS will ja für die Zukunft des Menschen etwas Gutes schaffen, ein großes Khalifat.
Wir sind also mitten im Jetzt. Kommen im Stück aktuelle Bezüge vor?
Nein, im besten Fall klingelt es bei den Zuschauern. Im St. Petersburg des 19. Jahrhunderts mögen die Menschen andere Mäntel und andere Hüte getragen haben, aber wenn du in die Ghettos unserer Städte gehst, dir die Gerüche, den moralischen Verfall und die soziale Not der Menschen ansiehst, dann sind wir in den gedichteten Räumen und Welten von Dostojewskij.
Bei „Schuld“ wurde der Protagonist Raskolnikow von sechs Schauspielern dargestellt, die die verschiedenen Teile seiner Persönlichkeit verkörperten. Welcher davon warst du?
Ich war der, der gesagt hat: Komm, wir machen’s jetzt. Los jetzt, hört auf zu diskutieren, Axt raus und fertig.
Wen spielst du in der kommenden Inszenierung?
Jetzt spiele ich Porfirij, den Ermittlungsrichter. Er erkennt sehr früh, dass Raskolnikow der Mörder ist. Aber er sagt: „Ich konfrontiere ihn nicht damit. Je harmloser ich erscheine, desto öfter wird er zu mir kommen. Und in der Zwischenzeit sammle ich immer mehr Beweise, sodass ich genau sagen kann, was er wie wann gemacht hat. Dann wird er von allein gestehen.“ Das ist eine grandios geschriebene Auseinandersetzung.
Kannst du Dostojewskij im Original lesen?
Ja, ich bin in der DDR großgeworden, habe in der 5. Klasse angefangen, Russisch zu lernen, und es ist bis heute lebendig. Das hilft manchmal in der Arbeit, weil man immer wieder spürt, wie gedichtet und sprachmächtig Dostojewskij schrieb. Das ist ja nichts Neues, aber immer wieder furchtbar beeindruckend. Raskolnikow zum Beispiel, die Figur, die zwei Frauen den Schädel spaltet, heißt der Gespaltene – kann aber auch der Spalter heißen.
Bei „Schuld“ ging es vor allem darum, was im Inneren von Raskolnikow passierte.
Karin Henkel hat, wie gesagt, die Beobachtung gemacht, dass sich Raskolnikow alles, was wir als Leser erfahren, vielleicht nur einbildet. Weil das Geld fehlt, hat er seit Wochen nicht geschlafen, nicht gegessen und hat nur noch Fantasien im Kopf. Es gibt immer wieder seitenlange irrsinnige Gedankengewitter von ihm, und dahinter steht: Das dachte er innerhalb von zwei Sekunden. Er fiebert und Dostojewskij nimmt sich die Zeit, das rasende Fieber in Einzelteile zu zerlegen und in Wiederholungen – so wie es einem jeden von uns ergeht, der im Fiebersturm krasse Trips erlebt.
Der Bühnenraum wird gewissermaßen zu seinem Kopf.
Der Gedankentrip dieses Menschen, der physiologisch und psychologisch extrem in Not ist, ist das, was Karin Henkel auch jetzt am stärksten fasziniert. Diese innere Gedankendynamik mit echten Menschen sichtbar zu machen, ist natürlich sehr reizvoll. Castorf macht es oft: Auf der rein äußerlichen Ebene wohnst du einem Ereignis bei, irgendwann bewegst du dich in dem Gedankenstrudel von einem anderen Menschen.
Bist du ein Castorf-Fan?
Frank Castorf und Jürgen Gosch sind Regisseure, bei denen ich mich als Zuschauer am besten aufgehoben fühlte. Was Castorf wie kein anderer beherrscht, ist einen körperlich durchzuschütteln, wie eine Art Katharsis. Fünf Stunden Castorf ist wie eine gute Platte.
Wolltest du es jemals selbst als Theaterregisseur versuchen?
Ich denke immer wieder darüber nach, aber ich merke auch, es ist ein Handwerk. Es ist nicht so einfach, einen Haufen Schauspieler zu irgendetwas zu bewegen, wenn die nicht davon überzeugt sind, was du dir denkst. Das geht mit Drill, mit Liebesentzug oder mit Überzeugung. Und du musst im tiefsten Inneren deines Herzens wissen, warum du das Stück auf eine Bühne bringen willst! Mal schauen. Kommt Zeit, kommt Rat.
Interview: Natalia Sadovnik
Fotos: Klaus Lefebvre
„Schuld und Sühne“ – inszeniert von Karin Henkel
Deutsches Schauspielhaus
Kirchenallee 39 (St. Georg)
Premiere: 30.5., weitere Vorstellungen: 2., 6., 10. & 30.6.