„Seitdem das Haus 1953 erbaut wurde, war hier immer ein Laden drin. Es gab mal eine Drogerie, eine Fleischerei und einen Kiosk. Einer meiner Kunden, ein älterer Herr, erzählte mir, dass der Laden mal seiner Mutter gehörte. Früher hat er hier seine Hausaufgaben gemacht. Mein Laden ist hier jetzt schon seit 20 Jahren.
Bevor ich einen Laden eröffnete, habe ich in Belarus Psychologie studiert. Da bin ich geboren und aufgewachsen. Wegen der Liebe bin ich nach Deutschland gekommen. Mein Psychologiestudium hilft mir bis heute dabei, mit Menschen umzugehen und auf andere zu achten. Das kann ich hier nutzen. Nachdem ich hergekommen bin, musste ich etwas machen. Es war auch mein Kindheitstraum, einen kleinen Laden zu haben, wo ich Kaffee und Brötchen anbiete. Natürlich hatte ich auch Momente, in denen ich mir dachte, ich muss was anderes erreichen, aber mittlerweile habe ich das akzeptiert.
Es war mein Kindheitstraum, einen kleinen Laden zu haben
Olga Prudnikova
Zwei Jahre lang hatte ich einen anderen Laden in Rahlstedt. Der Besitzer hat das Haus verkauft und der neue Eigentümer wollte es abreißen. Also musste ich raus. Das war ein Moment, in dem ich nicht wusste, was ich tun soll. Damals hatte ich schon einen Hermes-Paketshop, bestimmt auch einen der ersten. Das war zu der Zeit was ganz Neues. Mein Betreuer von Hermes hatte mir erzählt, dass in Winterhude ein Paketshop schließt. ,Vielleicht kannst du den Laden übernehmen‘ hat er gemeint. Ich bin zur Besichtigung gegangen. Das war in einem November. Es hat geregnet, die Straße wirkte sehr dunkel, viele Autos fuhren vorbei. Erst habe ich gedacht, dass das nichts wird. Aber ich wusste auch nicht, was ich anderes machen sollte und wo ich mit der Ware aus dem alten Laden hinsollte.
Es war also ein Zufall, dass ich in Winterhude gelandet bin. Jetzt bin ich glücklich darüber. Unsere Straße ist auch wie ein Dorf. Wir kennen alle, wir grüßen alle, wir kennen alle Kinder und passen aufeinander auf. Winterhude ist ein toller Stadtteil. Hier ist die Alster, der Stadtpark, und es gibt viele weitere Grünflächen. Alles ist durch die U-Bahn und Busse gut erreichbar. Viele kleine Geschäfte sind auch noch erhalten geblieben. Die Leute sind sehr freundlich und intelligent. Oft bleiben sie ruhig und ausgeglichen, obwohl sie in schwierigen Lebenssituationen sind. Typisch norddeutsch. Das sehe ich auch bei meinen Kunden. Sie nehmen die guten und schlechten Sachen, so wie sie kommen. Das bewundere ich sehr.
Viele Stammkunden kommen aus der Nachbarschaft. Ich habe eine Kundin, die gegenüber lebt, und seitdem ich den Laden eröffnet habe, besucht sie mich regelmäßig. Eine andere Kundin von mir arbeitet als Krankenschwester. Sie kommt jeden Tag, vor und nach ihrer Schicht im Krankenhaus. Ich freue mich immer besonders, wenn ich sie sehe. Einige Stammkunden können auch leider nicht mehr kommen oder sind schon verstorben. Ansonsten kommen viele von der Polizeiakademie nebenan, Schüler und Lehrer. Die fertig ausgebildeten Polizisten kommen auch manchmal.
Hier erlebt man jeden Tag etwas
Olga Prudnikova

Meine Kunden sind alle sehr besonders. Ich könnte ein Buch mit Anekdoten schreiben. Eine Kundin von mir ist schon 85 und macht jeden Tag 80 bis 100 Liegestütze. Als sie mir das erzählt hat, konnte ich das nicht glauben. ,Das kann nicht sein. Wie machen Sie das?‘ habe ich sie gefragt. Sie hat sich einfach auf den Boden gelegt und losgelegt. Ein super Gedächtnis hat sie auch. Sie ist fasziniert von den Königsfamilien und kann mir ohne Ende Daten und Fakten darüber erzählen. Auch als zwei ältere Damen, die schon über 90 sind, mit ihrem Gehwagen zum Eisessen gekommen sind, fand ich das schön zu sehen. Ein junges Mädchen kam im Sommer barfuß rein und meinte lächelnd: Ich habe einen neuen Lebensabschnitt. Können Sie mir bitte Kaffee umsonst geben?‘ Dann habe ich ihr Kaffee gegeben und sie ist glücklich weitergegangen. Hier erlebt man jeden Tag etwas.
Natürlich schätzen die Leute, was sie hier bekommen können. Ich verkaufe, was die Leute im Supermarkt vergessen haben. Milch, Zigaretten, Chips, Bier. Abends kommen sie, um Pakete abzuholen. Vormittags verkaufe ich meistens Snacks: belegte Brötchen, Toast vom Grill, Süßgebäck. Eigentlich ist das nichts Besonderes. Wenn ein Kunde ein belegtes Brötchen möchte, mache ich das frisch. Vielleicht macht es das aus – dass ich alles frisch zubereite. Am Wochenende backe ich auch selbst Dinkelbrötchen ohne Weizenmehl. Das habe ich für die Kunden eingeführt, die das nicht vertragen. Kuchen und Kekse laufen auch gut. Die mache ich auch selbst. Natürlich kann ich aber nicht alles selbst machen, weil das sehr viel Arbeit ist. Kuchen und Kekse muss ich am Abend backen. Meine Arbeitszeit ist dadurch sehr lang. Ich habe keine Mitarbeiter. Manchmal hilft mir mein Mann beim Teig zubereiten oder Einkaufen. Ich hatte vor ein paar Jahren mal eine Aushilfe, die komischerweise auch Olga hieß. Wir waren Olga 1 und Olga 2, aber jetzt mache ich das meiste allein.
Bei Olga ist ein Treffpunkt auf den ich Stolz bin
Olga Prudnikova

Mein Laden ist nicht nur Imbiss, Kiosk und Paketshop, sondern vor allem ein Begegnungsort. Hier wird viel abgelegt, so was wie Schlüssel, Briefe oder Geschenke. Leute treffen sich, sitzen, sprechen. Sie können erzählen, was in der Familie oder bei ihnen gesundheitlich los ist. Sie mögen diese Persönlichkeit. Die sieht man auch an der Einrichtung. Viele Dekoartikel sind Geschenke. Eine Kundin hat mir ein Schild mit meinem Namen und meinem Hund darauf geschenkt. Von einer Freundin habe ich ein selbst gemaltes Bild bekommen und mein Mann hat mir einen Holzkalender selbst gemacht. Der steht jetzt auf der Theke. Im Grunde geht es aber einfach um Gespräche und den Kontakt. Das ist etwas, was fehlt, vor allem älteren Menschen, die nicht mehr weit weg gehen können. Man hat mehr Zeit als zum Beispiel im Supermarkt. Mittlerweile kennen wir uns und unsere Geschichten. Einige sagen, dass das schon fast eine Institution ist. Wenn ich Urlaub habe oder den Laden schließe und vorbeigehe, dann ist die Straße leer. Alle gehen vorbei. Man kann hier nicht anhalten, um sich zum Unterhalten zu treffen. Das ist auf jeden Fall ein Treffpunkt, und darauf bin ich stolz. Ich glaube, ich habe auch etwas dazu beigetragen.“
Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG 05/2025 erschienen.