SZENE HAMBURG: Marcus und Mohamed, der Ausgangspunkt eures Buchs „Dakhil“ ist euer gemeinsamer Podcast „Clanland“ gewesen – oder war es andersherum?
Marcus: Das Buch war zuerst da. Mohamed lag eines Tages auf seinem Bett und hat wieder einmal eine dieser unsäglichen Dokus über arabische Großfamilien gesehen. Voller Wut hat er seinen Fernseher aus dem achten Stock geworfen und sich gedacht, dass man mal ein Buch aus der Gegenperspektive oder Innenansicht schreiben müsste. Also hat er sich an seine Kugelschreibmaschine gesetzt und angefangen. Als er nicht so recht weiterkam, hat er sich gefragt, wer ihm helfen könnte …
Mohamed: … und da ist ihm Marcus Staiger eingefallen, der ja anscheinend schon Bücher geschrieben hat. Der kann das zwar auch nicht richtig, aber gemeinsam haben sie nun doch über 450 Seiten zu Papier gebracht. In der Zwischenzeit haben sie aber auch noch zusammen mit Daniel Hirsch von Radio Fritz diesen Podcast produziert und deshalb hat das alles ein wenig länger gedauert. Nun aber ist das Buch im Handel.
Bei den Begriffen „Clan“ und „Arabische Großfamilien“ dürften die meisten Menschen direkt bestimmte Assoziationen in den Kopf schießen, wofür die Medien in den vergangenen Jahren ja erfolgreich gesorgt haben. Was war euer Anliegen mit diesem Podcast und nun mit dem Buch?
Marcus: Der Ansatz ist einigermaßen gleich. Wir wollten generell so etwas wie das fehlende Puzzleteil zur Clan-Berichterstattung liefern. Uns kam es so vor, dass da doch ein paar relevante Stimmen fehlen und die wollten wir suchen und ihnen Gehör verschaffen. Wir hatten immer den Eindruck, dass mehr über Clans gesprochen wird, anstatt mit ihnen.
Hattet ihr mit dem Thema Schwierigkeiten, einen Verlag zu finden?
Mohamed: Ja. Das Thema ist und bleibt ja aktuell und wir sehen auch, dass immer wieder Bücher erscheinen, die im üblichen Narrativ gehalten sind, sprich: die das Klischee von der kriminellen Großfamilie weiter verbreiten. Aber mit unserem Anspruch haben wir tatsächlich kein größeres Verlagshaus gefunden, trotz renommierter Literaturagentin, weswegen es nun sozusagen im Selbstverlag erschienen ist.
„Die üblichen Geschichten werden wieder und wieder erzählt“
Was bedeutet „Dakhil“ und die Prägung auf dem Cover des Buches?
Mohamed: Dakhil ist das arabische Wort für „innen“. Die Prägung bedeutet „Inside arabische Clans“ auf Arabisch plus unsere Namen in arabischen Schriftzeichen.
Mohamed, du bist Teil einer sogenannten arabischen Großfamilie. Ich weiß, dass die Frage vermutlich nur schwer kurz und knapp zu beantworten ist, aber: Inwiefern hat dich dieser Umstand geprägt? Kam diese Prägung eher von innen, also von den Mitgliedern deiner Familie, oder von außen durch die Vorurteile, denen du ständig ausgesetzt bist?
Mohamed: Sowohl als auch. Eine Familie prägt einen ja immer und wir haben schon einen ausgeprägten Familiensinn. Der Blick von außen wirkt allerdings stärker. Oft kann ich das gar nicht richtig einschätzen, warum Menschen auf mich reagieren, wie sie reagieren. Also ob sie jetzt besonders nett zu mir sind, weil sie mich nett finden oder weil sie Angst vor meinem Namen haben oder sich Vorteile erhoffen. Und wenn die Leute unfreundlich sind, ob ich persönlich was falsch gemacht habe oder weil sie sich denken, diesem Chahrour zeige ich es mal, von dem lass’ ich mir nichts bieten.
Rassismus ist ein Problem des Rassisten und nicht des Betroffenen.
Mohamed Ahmad Chahrour
Hast du das Gefühl, dass die Vorurteile zu- oder abnehmen?
Mohamed: Dass sie zunehmen, weil die üblichen Geschichten wieder und wieder erzählt werden und das Fehlverhalten einiger weniger der großen Mehrheit angelastet wird. Auch die Vorurteile gegenüber Muslimen nehmen meiner Einschätzung nach zu, und auch damit bin ich immer wieder konfrontiert.
„Das Narrativ der Medien wirkt“
Mohamed, du sprichst im Zuge der Vorverurteilung, die du regelmäßig erlebst, ja gerne vom „Fluch des Namens“. Hast du mal darüber nachgedacht, deinen Nachnamen zu ändern?
Mohamed: Nein. Rassismus ist ein Problem des Rassisten und nicht des Betroffenen, genauso verhält es sich mit Diskriminierung. Außerdem ist Amsel ein sehr schöner Name – denn das bedeutet Chahrour übersetzt.
Wie haben eure Familien und Freunde darauf reagiert, als ihr denen von eurem Projekt erzählt habt?
Mohamed: Meine Familie hat mit Unverständnis und Schulterzucken reagiert und mich gefragt, wie man auf die Idee komme, ein Buch zu schreiben.
Marcus: Meine Familie traut sich nicht, mich zu kritisieren, aber die beäugen das, glaube ich, sehr misstrauisch. Einige deutsch-deutsche Freunde reagierten ebenfalls misstrauisch und kritisch und wenn ich ihnen von den vielen fortschrittlichen Leuten erzählt habe, die wir im Zuge der Recherche getroffen haben, haben die wiederum mit Ungläubigkeit reagiert oder gemeint, dass wir da sicherlich nur Ausnahmen gefunden hätten. Alles in allem kann man festhalten: Das Narrativ der Medien wirkt.
Gab es Gegenwind von einzelnen Clan-Mitgliedern, die nicht wollten, dass das Buch geschrieben wird?
Marcus: Nein. Das gab es tatsächlich nicht.
„Insgesamt scheint das alles politisch motiviert“
Ihr habt in vergangenen Interviews zu Recht immer die rassistisch geprägte und vorverurteilende mediale Berichterstattung angeprangert. Was müsste sich eurer Meinung nach daran konkret ändern?
Mohamed: Evidenzbasierte und differenzierte Berichterstattung. Man käme ja auch bei der Berichterstattung über die Reichsbürgerszene nie auf die Idee, diese Taten dem gesamten Volk, einer Bevölkerungsgruppe oder auch deren Familien zuzuschreiben. Diese Fairness würde man sich bei migrantischen Bevölkerungsgruppen auch wünschen.
Die Darstellung, dass die alle gleich seien, die stimmt halt einfach nicht.
Marcus Staiger
Auch wenn man das sicherlich nicht verallgemeinern kann, aber: Viele Menschen denken bei arabischen Großfamilien sofort an Verbrecher. Aber habt ihr bei eurer Recherche ansatzweise herausfinden können, wie viel Prozent solcher Familien überhaupt kriminell ist?
Marcus: Nein und das halten wir auch für eines der entscheidenden Probleme bei der ganzen Berichterstattung: Es gibt keine empirischen Erhebungen und Studien zu diesem Thema. Alles wird mehr oder weniger aus Alltagsbeobachtungen abgeleitet und aus dem Bauch heraus beurteilt. Selbst der Begriff „Clankriminalität“ selbst spielt im juristischen Bereich keine Rolle. Es ist ein behelfsmäßiger Arbeitsbegriff, der Kriminalität in „ethnisch abgeschotteten“ Gesellschaften beschreibt. Aber selbst nach diesem Kriterium würde viel von dem, was unter diesem Begriff subsumiert wird, gar nicht mehr dazu zählen. Was bleibt, ist die Auflistung von Straftaten in Verbindung mit Nachnamen, wobei dann auch Bagatelldelikte dazugezählt werden. Insgesamt scheint das alles politisch motiviert oder von den Medien vorangetrieben zu sein.
„Orte des Empowerments und der Selbstermächtigung schaffen. Das wäre es“
Gibt es Dinge, die ihr bei der Arbeit an eurem Buch gelernt habt? Von denen ihr noch nichts wusstet und die euch irgendwie beeindruckt haben; oder auch Begegnungen oder Aussagen, die hängen geblieben sind?
Marcus: Auch wenn wir ja davon ausgegangen sind, dass die herkömmliche Berichterstattung nicht stimmt, waren wir doch davon überrascht, wie divers diese Community ist. Wie unterschiedlich die Leute und ihre Ansichten sind. Die Darstellung, dass die alle gleich seien, die stimmt halt einfach nicht.
Was ihr ja immer betont, ist der Umstand, dass ein Grund dafür, dass man kriminell wird, der ist, dass der Staat seine Pflichten nicht erfüllt, um Alternativen aufzuzeigen und dafür sorgt, dass die Menschen auf ehrliche Art und Weise ihren Lebensunterhalt verdienen können. Das trifft ja generell auf Menschen mit schwachem Einkommen zu, und bei Immigrant:innen natürlich erst recht, weil die zudem noch die Aufgabe erfüllen müssen, sich in einem fremden Land und einer fremden Kultur zurechtfinden zu müssen und eben auch regelmäßig auf Ablehnung stoßen. Wenn ihr konkret drei Dinge ändern könntet, um die Ist-Situation zu verbessern, was wäre das?
Marcus: 1. Eigentum abschaffen. 2. Einrichtung von Bürger:innenräten, in die sich alle Bevölkerungsgruppen einbringen können, egal, welchen Aufenthaltsstatus sie haben. 3. Kohle in Bildungsarbeit und Kiezarbeit packen. Man muss ein Umfeld schaffen, in dem die Menschen aufblühen können. Theaterarbeit. Kunst, Musik, Kampfsport. Mädchencafés. Orte des Empowerments und der Selbstermächtigung schaffen. Das wäre es.
Marcus Staiger & Mohamed Ahmad Chahrour: „Dakhil“, Ghost Brand Management GmbH, 439 Seiten, 19,99 Euro
Dieser Artikel ist zuerst in der SZENE HAMBURG 02/2023 erschienen.