Die Corona-Pandemie hat die Kulturlandschaft hart getroffen. Wie geht es weiter? Trotz Wiedereröffnung sind die Akteure zermürbt von Existensängsten. Zugleich kämpfen sie unermüdlich, damit es weitergeht. Eine Stimmung, zerrissen zwischen Optimismus und Verzweiflung. Vier Protagonisten aus der Szene berichten
Text: Ulrich Thiele
Überlebenskampf der Clubszene
Der Anblick des leeren Clubs versetze ihm jedes Mal einen Stich, sagt Constantin von Twickel beim Eintreten. Er setzt sich an den Tresen im Nochtspeicher, stellt zwei Wasserflaschen auf den Tisch und atmet erst einmal durch. Es ist brüllend heiß an diesem Freitagnachmittag, heute hat sich Twickel endlich mal einen Tag frei genommen. Er ist künstlerischer Leiter des Nochtspeicher und der Nochtwache und engagiert sich ehrenamtlich in den Vorständen des Clubkombinat Hamburg, einem Zusammenschluss von Clubbetreibern, Veranstaltern, Bookern und Agenturen, und der dazugehörigen Clubstiftung. Die letzten Wochen und Tage waren für ihn vollgepackt mit Gesprächen mit der Kulturbehörde und den Vorbereitungen für den September, wenn der Betrieb eingeschränkt wieder losgeht. Seinen ersten Corona-bedingten Ausfall hatte der Nochtspeicher bereits am 10. März.
Der britische Musiker und Autor Billy Bragg hatte seine Lesetour abgesagt. Am 13. März, also noch vor den behördlichen Anordnungen, stellte der Nochtspeicher freiwillig den Betrieb ein – wie so viele Clubs in Hamburg, die schon früh der Eindämmung des Virus höchste Priorität verliehen. „Wir kämpfen alle hart ums Überleben“, sagt Twickel. Der Nochtspeicher hat Glück im Unglück. Zum einen, weil die Hamburger Kulturbehörde schnell und engagiert auf die Krise reagierte. Zum anderen, weil er zu den förderberechtigten Clubs gehört, die die Corona-Soforthilfe der Kulturbehörde für anerkannte Live-Musik- Kulturstätten in Anspruch nehmen konnten.
Dafür mussten einige Kriterien erfüllt werden: Der Club musste unter anderem eine Mindestanzahl von vergangenen Veranstaltungen im Monat vorweisen und Gema-Zahlungen geleistet haben. Zwischen 50 und 60 Musikclubs erfüllen diese Kriterien, viele andere nicht. Selbst Clubs, die förderberechtigt waren, erhielten die Hilfe nicht, weil sie noch zu viele eigene Rücklagen hatten, die sie zuerst aufbrauchen sollten. Vergangenes Jahr hat der Nochtspeicher seit seiner Gründung 2013 zum ersten Mal überhaupt Gewinn gemacht. Der Club wurde also all die Jahre sowieso schon mit schmalem Budget betrieben, was hohen persönlichen Einsatz der Macher einforderte. Und viele Rücklagen konnte Twickel so natürlich nicht bilden, die wenigen sind inzwischen ohnehin aufgebraucht. Immerhin konnte er im Lockdown die laufenden Kosten um die Hälfte auf 20.000 Euro senken. Doch bereits im März konnte Twickel die knapp 30 Minijobber, die er beschäftigt und die nicht unter das Kurzarbeitergesetz fallen, kaum bezahlen. Denn innerhalb der ersten zwei Wochen des Lockdowns sind bereits 100 Veranstaltungen ausgefallen oder verschoben worden.
Als die Behörde am 1. Juli die Verordnung zur Wiederaufnahme des Kulturbetriebs veröffentlichte, waren die Clubs davon noch ausgeschlossen. Ab dem 1. September dürfen auch sie einen reduzierten Betrieb aufnehmen. „Wir adaptieren das Szenario der Gastronomie“, erzählt Twickel. Eröffnet wird im Stil eines Jazzclubs, mit runden Tischen für vier Personen und Lämpchen. Rund 60 Gäste finden so Platz auf der 185 Quadratmeter großen Fläche. Es wird einen Tischservice geben, damit die Gäste nur aufstehen, wenn sie auf die Toilette müssen. Drei Konzerte sind unter diesen Bedingungen im September geplant, hinzu kommen Veranstaltungen im Rahmen des Reeperbahn Festivals. Irgendwas kann allerdings immer dazwischen kommen, je nach Lage. Momentan steigt die Zahl der Infizierten wieder. „Wir versuchen, das Unplanbare zu planen“, sagt Twickel. Das inkludiert auch Verschiebungen. Der geplante Ersatztermin im September für die Lesung von Billy Bragg musste abermals verschoben werden.
Dennoch: Bis zum 31.12. ist das Überleben gesichert, bis dann steht der Nochtspeicher unter dem Club-Rettungsschirm der Kulturbehörde. Der reduzierte Betrieb ab September wird über eine Fehlbedarfsförderung finanziert. Die Differenz zwischen den Kosten und den Einnahmen durch die Konzerte wird vom Staat übernommen, zu etwa 20 Prozent vom Land Hamburg, zu 80 Prozent aus Bundesmitteln. Insgesamt 1,5 Millionen Euro werden den förderberechtigten Clubs zur Verfügung gestellt. Auch wenn nicht viel erwirtschaftet werden wird, ist es dennoch eine Entlastung der staatlichen Töpfe. Und die ist notwendig, wenn man bedenkt, welche Ausgaben auf die Behörde zukommen. Es gibt beispielsweise Fördergelder für Clubs mit alten Lüftungsanlagen, damit sie ihre Räume pandemiegerecht umgestalten können. Bis zum 31. Oktober gibt es außerdem einen Topf für die Outdoor-Initiative, die das Clubkombinat und die Clubstiftung zusammen mit der Kulturbehörde erwirkt haben.
Aber es ist verworren, niemand kann gleichzeitig aus mehreren Töpfen Summen beziehen: Wer im September draußen Veranstaltungen macht und dafür eine Fördersumme bewilligt kriegt, kriegt nicht noch zusätzlich etwas für die Indoor-Veranstaltungen. So oder so: „Es ist ein Wettlauf mit der Zeit“, sagt Twickel, irgendwann sind die Töpfe eben leer. Viele kleinere Läden werden vermutlich gar nicht erst öffnen, weil es für sie nicht lohnt, wenn nur für zehn Menschen Platz ist. Und nicht alle Clubs werden diese Krise überleben. „Da muss man gar nicht drum herum reden“, so Twickel. Manche wird es finanziell treffen, manche werden entkräftet hinschmeißen, vermutet er. Was in diesen Zeiten ganz deutlich wird, ist, wie verwoben die unterschiedlichsten Branchen miteinander sind. Es ist wie ein Ökosystem: Die Leute gehen erst ins Restaurant, dann zum Beispiel in den Nochtspeicher aufs Konzert und anschließend nebenan in die Washington Bar.
„Scheiße, jetzt geht’s an die Substanz“ (Constantin von Twickel)
Twickel fasst die Bedeutung für Hamburgs Szene in einem Bild zusammen: „Wenn etwas aus diesem Kreislauf wegfällt, dann ist das so, als würde ein Tintenfisch einen Arm verlieren, bis er sich irgendwann nicht mehr fortbewegen kann.“ Er glaubt, dass einige Bars und Kneipen nicht überleben werden, weil sie keine Unterstützung kriegen. Denn die Bars unterstehen nicht der Kulturbehörde, sondern der Wirtschaftsbehörde. Auch wenn die Kulturszene sich von ihrer Behörde unterstützt fühlt, das Überleben kurzfristig gesichert ist, kommen enorme Schwierigkeiten auf die Branche zu. Denn unwegsame Faktoren spielen auch eine Rolle:
Kommen im September überhaupt Besucher, oder sind die Menschen gehemmt? Und wie sollen sich langfristig überregionale Tourneen von Künstlern realisieren lassen? Braucht es nicht zusätzlich Alternativkonzepte? Twickel: „Ich habe schon überlegt, ob man Schulen tagsüber den Raum zur Verfügung stellen könnte.“ Schließlich hätten diese gerade das Problem, zu kleine Klassenräume zu haben. Aber auch da gäbe es viel bürokratischen Behördenaufwand, um eine Genehmigung zu erhalten. Überhaupt sei das Bürokratische bisweilen hemmend. Vor einigen Monaten sammelte die Clubstiftung in der Spendenaktion „Save our Sounds“ 174.000 Euro ein. Dafür brauchte sie zunächst eine Sondergenehmigung der Finanzbehörde, um die Spenden ausschütten zu können. Ansonsten hätte die Stiftung ihre Gemeinnützigkeit verloren.
„Das war heikel. Das Geld musste eingefroren werden, einen Teil hatten wir schon verteilt, das musste zurücküberwiesen werden.“ Inzwischen sind die Gelder von einem unabhängigen Gremium und nach einem Schlüssel verteilt worden. Für Twickel gilt, was für alle gilt: Das Berühmte auf Sicht fahren. Abwarten und hoffen, dass das Horrorszenario nicht eintritt. „Ein zweiter Lockdown? Dann wäre Schicht“, sagt er. Ob er noch einmal psychisch die Kraft aufbringen könnte, durch einen Lockdown zu gehen, bezweifelt er. „Wir hatten alle unsere Tiefs, ich auch“, sagt er, „Am Anfang war ich noch voller Tatendrang. Als ich aber gemerkt habe, dass die Krise länger andauern wird, habe ich schon gedacht: Scheiße, jetzt geht’s an die Substanz.“ Doch nicht nur Clubbetreiber haben es aktuell besonders schwer, auch die, die von der Veranstaltungsbranche abhängig sind wie Toningenieure oder Caterer.
Zermürbung in der Kreativwirtschaft
„Die Lage ist überaus desolat“, sagt Egbert Rühl, Geschäftsführer der Hamburg Kreativ Gesellschaft. „Hope is everywhere“, steht auf einer Postkarte, die neben der Tür im Konferenzraum der städtischen Einrichtung in der Hongkongstraße hängt. Seit 2010 ist sie eine wichtige Anlaufstelle für die Kreativen der Stadt. Individuelle Beratung, Vorträge und Workshops stehen unter anderem auf dem Programm, um ihre Belange zu fördern. „Unsere Klienten leiden unter zermürbenden Existenzängsten“, sagt Rühl. Gerade zu Beginn der Krise sei die Verunsicherung groß gewesen, weshalb die Kreativ Gesellschaft eine Service-Hotline einführte. Die Nachfrage war hoch. Von Mitte März bis Ende April wurden rund 500 Beratungsgespräche geführt. Die häufigsten Fragen: Wo kann ich den Antrag für die Soforthilfen von Bund und Ländern stellen? Wie erhalte ich eine Grundsicherung? Ich befinde mich noch in der Ausbildung – bin ich antragsberechtigt? Dabei wurden erste Probleme sichtbar, denn die Hamburgische Investitions- und Förderbank (IFB), die für die Soforthilfen zuständig ist, fragte die Liquiditätsengpässe für die Monate März bis Mai 2020 ab.
„Der Staat hat enorm schnell und effektiv reagiert“ (Egbert Rühl)
Dabei erhielten viele Selbstständige in dieser Phase noch Zahlungen für kürzlich abgeschlossene Projekte. Der Corona-bedingte Engpass stand zu dem Zeitpunkt also erst noch bevor. „Grundsätzlich hat der Staat auf Bundes- und Landesebene enorm schnell und effektiv reagiert“, sagt Rühl. „In den Details sehen wir aber kritische Punkte.“ Einer dieser Punkte ist, dass Solo-Selbstständige und Freiberufler nur ihre Betriebskosten über den Rettungsschirm kompensieren können. Nicht aber ihr fehlendes Einkommen, dieses muss beim Arbeitsamt als Grundsicherung (Arbeitslosengeld II) beantragt werden. Das heißt: Solo-Selbstständige und Freiberufler können ihr Einkommen nicht geltend machen. „Wir haben unseren Klienten in den letzten zehn Jahren immer wieder gesagt, dass sie sich auch als Akteure des Wirtschaftslebens verstehen sollen“, sagt Rühl. Maler oder Schauspieler seien eben auch Unternehmer.
„Im Moment der Krise gibt die Politik ihnen aber zu verstehen, euer Einkommen ist keine Betriebsausgabe.“ Im Gegensatz zu Unternehmen, für die die Löhne der Angestellten zu den Betriebsausgaben gehören, also unternehmerisch bewertet und innerhalb der Rettungsmaßnahmen bezuschusst werden, rutschen Solo-Selbständige in das Sozialsystem, indem sie Grundsicherung beantragen müssen, um ihren Betrieb weiter fortführen zu können. Auch in Hamburg hieß es für Solo-Selbständige also von Anfang an: Betriebskosten aus den Rettungsschirmen, das eigene Einkommen aus der Grundsicherung – bei gleichzeitiger Senkung der Hürden zum Zugang zur Grundsicherung. In manchen Fällen können sogar die Mietkosten für die Wohnung über die Grundsicherung erstattet werden. „Es gab auch Hinweise von der Politik, dass man als Kreativer – wenn man geschickt ist – über die Grundsicherung mehr Geld bekommen kann, als wenn man seinen Unternehmerlohn in den Rettungsschirmen beantragt – das zeigt, dass die Programme zu Beginn noch nicht feinjustiert waren.“
Dennoch findet Rühl: „Grundsätzlich hat der Staat früh an Kreativselbstständige gedacht und es war gut, dass die Bürokratie versucht hat, das schnell umzusetzen. Dass die Dinge nicht immer bis zum Ende durchdacht sein können, ist eine unvermeidbare Kinderkrankheit.“ Dazu gehört auch zum Beispiel die „Mietstundung“. Der Senat verkündete: Wer Mieter eines städtischen Gewerbeimmobilienvermieters ist, kann seine Mieten bei diesem städtischen Vermieter stunden. Doch bei der Beantragung von Geldern aus dem Rettungsschirm, ist die Miete ein erheblicher Anteil davon. Also stellte sich die Frage, lieber die Miete stunden und nicht bei seinen Betriebskosten einberechnen? Oder sie nicht stunden, und diese im Rahmen des Rettungsschirms geltend machen? Zudem gab es eine Verordnung der Kulturbehörde, nach der zusätzliche Mittel von der Kulturbehörde nur dann bezogen werden können, wenn man seine Miete gestundet hat.
„Es gehört zur Natur der Kreativen, weiter zukämpfen“ (Egbert Rühl)
Inzwischen räume der Staat auf, die Programme würden ausdifferenzierter, auch auf Bundesebene. Auch stelle er jetzt Rückforderungen, weil im Nachhinein überprüft werde, ob alles ordnungsgemäß war, berichtet Rühl. „Ich nehme eine gewisse Verzweifl ung bei unseren Klienten wahr, und zugleich eine Bereitschaft , das irgendwie durchzustehen“, erzählt Rühl. „Aber es ist ungeheuer zermürbend.“ Die Zermürbung hänge auch mit der unsicheren Zukunft zusammen. Der Blick in die Zukunft reiche laut Rühl gerade mal von Woche zu Woche. Alles hängt davon ab, wie sich die Fallzahlen entwickeln und wann der Impfstoff flächendeckend bereitsteht. Eine Antwort darauf gibt es nicht, Prognosen sind reine Spekulation. Eine vorsichtige Prognose äußert Rühl aber doch: „Momentan ist der Tenor, dass wir das Virus eindämmen müssen – und das ist auch richtig, keine Frage. Aber es führt auf ökonomischer und künstlerischer Seite zu so massiven Verlusten, dass man über Alternativen nachdenken muss – wobei ich nicht weiß, wohin dieses Denken führt.“ In Richtung Herdenimmunität?
Rühl stöhnt ratlos auf. „Egal in welche Richtung das Denken geht, es wird sofort sehr schwierig. Man weiß nicht, wann oder ob der Impfstoff kommt. Niemand weiß es. Es ist ein Desaster“, sagt er und lacht. Gut, dass ihm das Lachen noch nicht im Halse stecken bleibt. „Es bleibt uns nichts anderes übrig“, meint Rühl. „Das ist schon eine fatalistische Haltung, denn diese Situation betrifft uns alle und es gibt niemanden, gegen den wir unsere Wut, so wir denn eine haben, richten können. Das Virus ist ja nicht menschengemacht.“ Im Grunde ist nichts sicher. Nur, dass ein weiterer Lockdown nicht passieren darf. Rühl: „Einen zweiten Lockdown für weitere drei Monate werden nur wenige überleben.“ Politisch stelle sich dann auch die Frage, inwieweit und wie lang ein Staat die Institutionen und Unternehmen noch über den Berg bringen kann, wenn sie selbst nichts einnehmen. Denn ewig kann die Subventionsmaschine nicht am Laufen gehalten werden.
„Wenn die Rahmenbedingungen wieder verschärft werden, verlieren alle die Perspektive“, erzählt Rühl. „Ich habe für diesen Zustand dann keine Begriffe mehr.“ Die Klienten seien zwar zermürbt, aber noch nicht so weit, dass sie Alles hinschmeißen wollen, denn „es gehört zur Natur der Kreativen, weiterzukämpfen und Alternativen zu entwickeln“.
Eine Dystopie für die Kinobranche
Auch die Kinobranche hat die Krise hart getroffen. Der Hauptverband Deutscher Filmtheater spricht von einem Umsatzrückgang von 80 Prozent im Vergleich zum vergangenen Jahr. Hans-Joachim Flebbe, Betreiber der ASTOR Film Lounge und des Savoy, macht aus der desaströsen Lage keinen Hehl: „Ich habe zwei Perspektiven für die Kinolandschaft im nächsten Jahr. Die eine ist schlimm, die andere ist ganz schlimm“, erzählt er am Telefon. Zunächst die schlimme: Flebbe geht davon aus, dass die Besucherzahlen sich um mindestens 25 bis 30 Prozent gegenüber dem Jahr 2019 verschlechtern werden.
Die bisherige Benchmark lag in den vergangenen Jahren bei 120 Millionen Kinobesucher pro Jahr in Deutschland. Diese Zahl werde wohl nie wieder erreicht werden, befürchtet Flebbe. Im nächsten Jahr geht er eher von maximal 80 bis 90 Millionen aus. „Das wird für viele Kinos sehr eng, es sei denn, der Staat erklärt sich doch noch bereit, größere Kompensationszahlungen zu leisten.“ Flebbe betreibt deutschlandweit Kinos, die sehr unterschiedlich staatlich subventioniert werden. In Niedersachsen etwa sei bisher keine Hilfe gekommen, dem Kino fehle es schlichtweg an Lobbyarbeit: „Es herrscht eine Ungleichbehandlung, die mich wütend macht.“ Hamburg habe noch Glück, die Kulturbehörde zeige Verständnis und die Hansestadt gehöre zu den wenigen Bundesländern, die auf ihre Kinokultur Wert legen. Flebbe hat von der Kulturbehörde je 50.000 Euro Hilfe für die ASTOR Film Lounge in der HafenCity und das Savoy erhalten. Das ist zwar nur ein kleiner Ersatz für mehrere Monate Stillstand, die Verluste bleiben. Aber immerhin helfen die Summen, die Last der Fixkosten abzumildern.
Die Phase der Stilllegung hat länger gedauert als gedacht, und die Zuschauer kehren nicht in gleicher Form zurück wie vor der Krise, wie man derzeit sieht. Viele haben Angst, zudem ist die Filmauswahl überschaubar, was das Wiederanlaufen erschwert. Selbst die eingeschränkte Auslastung von 25 Prozent, die die Abstandregelung von 1,50 Meter erreicht, reicht nicht für ausverkaufte Vorstellungen. Die ASTOR Film Lounge in der HafenCity hat erst vor Kurzem geöffnet, da die Verluste unter diesen Bedingungen in geschlossenem Modus niedriger waren. Das Savoy hat mit Klassikern von Stanley Kubrick und Quentin Tarantino wieder eröffnet. Kostendeckend läuft das natürlich nicht, aber die Verluste seien überschaubar, sagt Flebbe. Der größte Einschnitt, der die Kinolandschaft langfristig prägen wird, liegt im Siegeszug der Streamingdienste, den die Corona-Krise vorangetrieben hat. Zugespitzt formuliert: Wer vorher noch kein Netflix-Abo hatte, hat spätestens jetzt eins. Dadurch wird der Druck auf die Kinos noch größer.
„Man muss demütig sein, angesichts der Lage“ (Hans-Joachim Flebbe)
Die Abstandsregelung führt dazu, dass die Verleiher andere Wege suchen, um ihre Filme zu vertreiben – eben Streamingdienste. Das habe Spätfolgen, denn wenn es gut funktioniert hat, werden sie weiterhin auf Streaming setzen, befürchtet Flebbe. Hinzu kommt die neue Hiobsbotschaft, dass das Universal Studio in Nordamerika dazu übergeht, das exklusive Auswertungsfenster der Kinos von drei bis vier Monaten auf 17 Tage zu reduzieren. Und damit wären wir bei Flebbes ganz schlimmer Prognose: „Ich befürchte, wenn das exklusive Fenster fällt, wird mindestens die Hälfte aller Kinos überflüssig und das Geschäftsmodell Kino „Man muss demütig sein, angesichts der Lage“ (Hans-Joachim Flebbe) wird sich auf wenige Premiumkinos reduzieren, die ein besonderes Ausgeherlebnis für Kinoliebhaber anbieten.“ Derzeit gebe es so viele Probleme, dass er von Baustelle zu Baustelle blicken müsse. Der erste Schritt muss laut Flebbe in der Reduzierung der Abstandsregelung für Kinos gelten, um den Verleihern genügend Kapazitäten für eine Kinoauswertung zu geben.
In Nordrhein-Westfahlen, Berlin und anderen Ländern wie der Schweiz, Österreich und Frankreich ist die Abstandsregelung für Kinos bereits auf einen Meter herabgesetzt. Damit ist zumindest eine Auslastung von 50 bis 60 Prozent möglich, die das Kino für die Vertreiber wieder attraktiver macht. In Hamburg ist das noch nicht der Fall (Stand 21.8.2020). Die diesbezüglichen Gespräche mit Kultursenator Carsten Brosda liefen aber gut, berichtet Flebbe. Es gibt gute Gründe für eine Änderung der Regelung. Eine Untersuchung der TU Berlin hat ergeben, dass die Ansteckungsgefahr im Büro höher ist als im Kino. Die Charité hat diese Aussage bestätigt. Im Kinosaal ist die Ansteckungsgefahr gering, weil man in der Regel sitzt, nicht redet und es keinen Auswurf wie im Restaurant gibt. Nicht zu vergessen die Belüftungsanlagen, die so konzipiert sind, dass sie die Luft aus dem Kino gegen Außenluft austauschen. Zudem werden die Kunden im Kino durch Online-Systeme identifiziert.
Wenn also jemand das Virus bei einem Kinobesuch in sich getragen hat, ist dieser leichter zu identifizieren als in Restaurants, wo Gäste falsche Kontaktdaten angeben können. Ein anderer Hoffnungsschimmer, wenn auch nur ein kleiner, ist Christopher Nolans Blockbuster „Tenet“, der vermutlich viele Besucher anzieht. Flebbe rechnet mit einer Million Besucher, damit ist „Tenet“ aber der einzige Filme in absehbarer Zeit, der etwas höhere Zahlen generiert. Deswegen wird sich wohl auch jeder Kinobetreiber auf den Film stürzen. Das heißt, der Kuchen teilt sich auf viele Kinos auf. Flebbe zeigt den Film in der ASTOR Film Lounge zu verschiedenen Uhrzeiten in verschiedenen Sälen, damit er eine Kapazität erreicht, die der Verleiher sich wünscht. Eine Monokultur also, nicht optimal. Doch: „Man muss ja demütig sein, angesichts der Lage.“
„Ich bin durch und durch optimistisch“ (Axel Schneider)
Optimismus an den Theaterhäusern
Axel Schneiders Blick in die Zukunft ist weitaus heller. „Ich gehe sogar soweit zu sagen, dass ich nicht nur verhalten, sondern durch und durch optimistisch auf die nächste Saison blicke“, sagt er. Im September startet die neue Saison, für Schneider eine große Angelegenheit. Schließlich leitet er vier Privattheater in Hamburg, darunter die Kammerspiele und das Altonaer Theater. Ein Grund für seine gute Stimmung ist der Coup, den er für Letzteres landen konnte. Am 13. September feiert Ferdinand von Schirachs neues Stück „Gott“, in einer Inszenierung von Schneider selbst, Hamburg-Premiere. Wie schon in Schirachs „Terror“ fällt das Publikum am Ende ein Urteil. Schwerer Stoff, aber Schirach ist bekanntlich ein Publikumsmagnet. Schneider will bewusst keine vordergründigen Corona-Themen auf die Bühne bringen. Jetzt sei die Zeit, auch existenzielle Themen zu zeigen. In dem Stück „Die Kinder“ etwa, das am 6. September an den Kammerspielen Premiere feiert, geht es um einen Super-GAU an einer europäischen Küste.
Im Zentrum stehen die Fragen, welchen Preis die Zukunft für unseren heutigen Wohlstand zahlt und welche Verpflichtung wir gegenüber unseren Kindern haben. Natürlich hat das Stück durch die aktuelle Pandemie eine zusätzliche Komponente bekommen. Die Abstände, die auf der Bühne eingehalten werden müssen, seien bei den Proben eine Herausforderung gewesen. Es dürfe nicht verkrampft aussehen, die Maßnahmen mit ironischen Meta-Kommentaren zu unterlaufen, kommt für Schneider nicht in Frage. Der Sketch „Was man beim Bettenkauf beachten sollte“ von Loriot, den Schneider gerne im Altonaer Theater gesehen hätte, ist gar nicht erst umsetzbar – darin liegen vier Darsteller dicht an dicht auf Doppelbetten. Derzeit ist immer wieder von einer zweiten Welle die Rede.
Was ist, wenn es zu einer Rücknahme der Einschränkungen oder gar zu einem zweiten Lockdown kommt? „Das darf nicht passieren. Ganz einfach. Mehr kann ich dazu nicht sagen“, meint Schneider. In der Theaterszene herrsche derzeit eine Aufbruchsstimmung, so Schneiders Eindruck. Auch wenn die kommenden Monate für kleinere Theater schwer werden dürften. Besonders dankbar ist er der Hamburger Kulturbehörde, die eine großartige Hilfe gewesen sei. Und dank des Kurzarbeitergeldes musste Schneider keinen seiner Mitarbeiter entlassen. Die Politik unterstützt die Theater in der Tat reichlich. Die abgesagten Privattheatertage, deren Initiator Schneider ist, werden im kommenden Juni in einer Doppelausgabe nachgeholt, der Bund und die Stadt haben die Finanzierung bereits gesichert. Hinzu kommt die Solidarität des Publikums. Viele Theaterbesucher hätten auf eine Rückerstattung verzichtet, berichtet Schneider. Nun gelte es, den Besuchern glaubhaft zu vermitteln, dass ihre Gesundheit gesichert ist, vor allem dem älteren Publikum, sagt Schneider und klopft drei Mal auf den Tisch.
SZENE HAMBURG Stadtmagazin, September 2020. Das Magazin ist seit dem 29. August 2020 im Handel und auch im Online Shop oder als ePaper erhältlich!