SZENE HAMBURG: Anne, du bist freie Texterin, Podcasterin, Moderatorin und vieles mehr. Einen wichtigen Teil in deinem Leben nehmen aber Bücher ein, mit denen du dich in vielen Formaten intensiv beschäftigst. Wie ist dein Interesse für Literatur entstanden?
Anne Sauer: Es gibt Kinderfotos von mir, wie ich mit diversen Kinderbüchern auf dem Schoß eingeschlafen bin oder einen Koffer voller Bücher mit mir herumschleppe. Ich habe also bereits früh angefangen, mich mit Büchern zu beschäftigen. Sie waren für mich immer schon eine Art Selbsthilfe, würde ich rückblickend sagen. Ich war als Kind häufig krank und nicht so outgoing, aber Bücher waren immer da.
Ich find immer interessant, wenn man rückblickend schon im Kleinkindalter den späteren Berufsweg einer Person ablesen kann – wie bei dir offenbar auch.
Mir wurde früher tatsächlich oft prophezeit, dass ich bestimmt mal ein Buch schreibe, aber ich habe immer geantwortet: „Nee, ich glaube nicht.“ Durch meine Arbeit mit Literatur hatte ich einen sehr realistischen Blick auf die Branche und mir selbst gesagt: „Solange ich nicht diese eine Idee von einer Geschichte habe, die ich erzählen will, muss ich kein Buch schreiben. Es gibt ja genug.“ Doch dann kam eben diese eine Idee.
Ich habe also bereits früh angefangen, mich mit Büchern zu beschäftigen
Anne Sauer
Gab es eine konkrete Situation, die dich zu der Idee geführt hat?
Ich wurde mal von einer Agentin gefragt, ob ich an was Längerem arbeite – und da ging mein Gehirn an. Ich habe in mich reingehört und mich gefragt, was mich selbst und mein Umfeld gerade beschäftigt. Plötzlich hatte ich so eine „Was wäre, wenn …“-Frage im Kopf. Was wäre, wenn jetzt gerade ein Baby bei mir wäre? Das kam wirklich aus dem Nichts. Und dann hat mich diese Idee nicht mehr losgelassen von einer Frau, die eines Tages in einem anderen Leben aufwacht und sich genau damit konfrontiert sieht. Da kam ganz schnell viel zusammen, sodass ich wusste: Da lauert eine Geschichte. Da ist eine Wut in mir, die herauswill; ein Verstehen wollen.
Anne Sauer: „Die Geschichte spiegelt zwei Leben einer Person“
Wie hast du dann angefangen zu schreiben?
Tatsächlich: Mit dem Anfang der Geschichte, zumindest dem ursprünglichen. Ich habe aufgeschrieben, wie eine Frau in diesem anderen Leben aufwacht und eine Art Exposé angefertigt, in dem ich einen möglichen Plot skizziert habe. Ich arbeite ansonsten relativ unchronologisch. Nur Anfang und Ende hatte ich früh – was als Leitfaden ganz gut war. Ich wusste, worauf ich hinschreiben will.
Der jetzige Anfang deines Buches, den wir an dieser Stelle natürlich nicht verraten, ist auf jeden Fall der Heftigste, den ich seit Langem gelesen habe.
Ach, das tut mir ein bisschen leid! (lacht)
Muss es nicht – im Gegenteil. Den Anfang vergisst man so schnell jedenfalls nicht. Mich interessiert aber, wie die Entscheidung für diesen Anfang gefallen ist.
Die Geschichte spiegelt zwei Leben einer Person. Für mich und meine Lektorin war sehr klar, was das Leid der Frau ist, die mit dem Baby aufwacht. Aber sie fragte mich irgendwann: „Wo steckt denn der Schmerz auf der anderen Seite?“ Mich hat das blockiert; dass da noch was fehlt. Also musste ich in den Schmerz dieser Figur rein, mit einer klaren Aufgabe nach dem Motto: „Schreibe eine möglichst schmerzhafte Szene.“ Dann saß ich auf dem Weg zur Frankfurter Buchmesse schreibend und ein bisschen weinend im Zug und hatte sofort das Gefühl: Das ist es.
Über das Veröffentlichen von Büchern
Du hast letztens in einem Insta-Video gesagt, dass du jetzt ein bisschen verstehst, was es heißt, ein Buch geschrieben zu haben und damit in die Welt rauszugehen. Wie ist das denn?
Ich höre ganz oft den Satz: „Ich finde das Buch sehr mutig.“ Da musste ich länger drüber nachdenken. Denn natürlich behandelt es Themen, die sehr nah an Menschen dran sind, und ich gebe anderen damit die Möglichkeit, sich zu öffnen, mir Feedback zu geben, mir ihre Geschichten zu erzählen und so weiter. Was ich gemerkt habe, ist: Dass ich mich dem jetzt immer aussetzen und zu den Reaktionen irgendwie verhalten muss – zu Kritik, zu Aufmerksamkeit, zu Lob.
Und das findest du schwierig?
Mindestens fordernd. Viele denken ja, es sei ein absoluter Traum, so ein Buch zu veröffentlichen – ist es auch. Aber Leser und Leserinnen vergessen manchmal, dass es von einem Menschen geschrieben wurde, der Zeit und Emotionen da reininvestiert hat, damit es diesen Text gibt. Deswegen bereite ich mich mental schon mal auf Kritik und Gegenwind, aber auch Euphorie vor. Es ist einfach viel, was da auszuhalten ist. Ist auch gut, dass es so ist. Niemand sagt ja, dass es leicht wäre, ein Buch zu schreiben und dass jede Person dafür geeignet sei, es dann auch noch zu veröffentlichen. Ob das etwas für mich ist, werde ich jetzt rausfinden. (lacht)
Es gab schnell Rückmeldungen, dass das, was ich geschrieben habe, glaubwürdig ist
Anne Sauer
Es wird jetzt auf jeden Fall ein spannender Ritt für dich werden: durch weitere Interviews, Lesungen, Podiumsdiskussionen et cetera.
Da freue ich mich total drauf. Ich bin so zufrieden mit dem Text und so glücklich, wie ich ihn geschrieben habe. Ich weiß aber auch, dass ein Buch, wenn es gelesen wird, noch mal zu einem anderen Buch wird. Jede Person zieht ja irgendwas anderes aus einem Text heraus – für sich. Und das finde ich schön.
„Schmerz und Glück gehen Hand in Hand“ –Anne Sauer

In „Im Leben nebenan“ geht es ja vor allem um die Frage: „Was wäre, wenn?“ Wie oft stellst du dir diese Frage heute noch?
Die Frage hat mich lange begleitet, aber gar nicht im negativen Sinne, sondern eher aus Neugierde. Das verlockende Gedankenspiel kennen wir bestimmt alle: Was für ein Mensch wäre ich heute, wenn ich damals dieses oder jenes gemacht hätte? Was für eine Sicht auf die Welt hätte ich dadurch? Aber ich habe damit meinen Frieden gemacht.
Durch das Schreiben?
Ja, auch durchs Schreiben. Mein Roman ist auch der Versuch, aufzuzeigen, dass Schmerz und Glück immer Hand in Hand gehen – egal auf welchem Weg. Wenn ich mich von einem bestimmten Weg verabschiede, bedeutet das immer auch, dass ich einen neuen Weg begrüßen kann.
Du liest ja offenbar sehr viel. Ich nehme an, dass das auch so war, als du an deinem eigenen Buch gesessen hast. Hast du keine Angst gehabt, dass du dich in Sprache und Stil zu sehr von anderen Autoren beeinflussen lässt?
Ich habe viele Babyratgeber gelesen, um mich ein bisschen ins Thema zu setzen – da war stilistisch nicht so viel zu holen. (grinst) Und Texte über Mutterschaft von tollen Autorinnen wie Antonia Baum, Sheila Heti, Rachel Cusk, um herauszufinden: Wie lässt sich über Mutterschaft schreiben? Was für einen Stil gibt es da schon? Welchen Ton? Und was könnte meiner sein? Ich habe gleichzeitig aber auch versucht, wenig zu lesen – vor allem keine deutschsprachigen Debüts, um mich nicht zu vergleichen.
Anne Sauer dachte sich für ihr neues Buch in die Mutterrolle rein
Du hast keine Kinder. Hast du es als sehr schwierig empfunden, dich in das Mütterthema hineinzufühlen und dich damit auseinanderzusetzen?
Das war eine Herausforderung, weil das Leben einer Mutter eines ist, das ich nicht führe. Man kann zwar recherchieren, aber nachfühlen? Schwieriger. Es gab daher durchaus Situationen, in denen ich mich gefragt habe: „Was habe ich mir dabei eigentlich gedacht?“ (lacht) Aber es gab schnell Rückmeldungen, dass das, was ich geschrieben habe, glaubwürdig ist. Das hat mich bestärkt, weiterzumachen.
Was sind die drei wichtigsten Dinge, die du beim Schreiben von „Im Leben nebenan“ gelernt hast?
Dass ich mir vertrauen und mich auf meine Intuition verlassen kann. Dass es mir leichtfällt, anzufangen und das weiße Blatt als meine Freundin zu betrachten. Und dass es nie nur meine Geschichte ist.
Dieses Interview ist zuerst in SZENE HAMBURG 07/25 erschienen.