SZENE HAMBURG: Im Symposion testet ihr Themen und Thesen der Antike auf ihre Brauchbarkeit für heute und morgen. Was war der Ursprung der Idee?
Lynn Takeo Musiol: Um ehrlich zu sein, hat mich die Art und Weise, wie die griechische Mythologie im Theaterkontext verhandelt wird, häufig abgeschreckt. Das Thema hat eine gewisse Sperrigkeit und bedarf des Vorwissens über verwobene Geschichtsstränge. Das ist kein leicht zu konsumierender Netflix-Content. Unabhängig davon, dass die Storylines sehr gewaltsam und binär sind – die Männer die Helden, die Frauen die hysterischen Objekte, die entführt, vergewaltigt und verheiratet werden –, sind es auch komplex geschliffene Geschichten. Es gibt in dieser Binarität Figuren, die sich aus einer queeren und feministischen Perspektive vielseitiger interpretieren lassen. Darauf habe ich mich für „Cruising Mythology“ lustvoll gestürzt. Im Symposium am Deutschen Schauspielhaus fragen wir: Was erzählen uns Figuren aus der Antike über unsere Wirklichkeit? Welche Probleme zeigen sie auf? In Zusammenarbeit unter anderem mit dem Dramaturgen Christian Tschirner, der am Haus wirkt, betten wir unsere Perspektive in den antiken Kosmos, den Intendantin Karin Beier dort derzeit mit der „Anthropolis“-Serie auf die große Bühne bringt.
Ein utopischer Kosmos für queer-feministische Themen
Apropos Karin Beier. Sie sagte jüngst im Interview mit SZENE HAMBURG über griechische Mythologie: Es sei fast schon schockierend, dass es gewisse Grundthemen gäbe, die sich in den letzten 2500 Jahren nicht aufgelöst hätten. Sie sei immer wieder überrascht, wie unfassbar modern sie seien.
Das stimmt, wenngleich ich da im Kontrapunkt sage: Es ist gleichermaßen unfassbar, wie viele Facetten der bekannten Geschichten bisher einfach noch nicht erzählt wurden.
Das geht ihr nun an und nehmt euch gesellschaftlich stark diskutierten Themen an: Klimakrise, queere Identität, Kritik an toxischer Männlichkeit. Was hat es für euch bedeutet, diese Schnittstelle zwischen Antike und Moderne zu erkunden?
Wir hatten große Lust, einen utopischen Kosmos entlang queer-feministischer Themen aufzumachen. Die Antike ist oft ein schwerer, Blut vergießender, destruktiver Monolith. Diesen Gewaltkosmos wollten wir außer Acht lassen. Wir schnappen uns also antike Figuren wie Odysseus und sagen: Er ist auf seiner langen Fahrt in einer männlichkeitskritischen Selbsthilfegruppe stecken geblieben und merkt jetzt, dass es mit ihm und der patriarchalen Ausrichtung so nicht mehr weitergeht. Oder die Figur Artemis, die keine Lust auf Konvention oder das Eheverhältnis hat – eine super eigenständige und autonome Figur. Wir haben sie jetzt als Adventure-Dyke gefasst. Das ist auch für mich und meinen persönlichen queer-lesbischen Kontext super interessant. Sie hat ein Cottage auf einer Insel und lebt dort im Einklang mit der Natur und ihren Nymphen. Wir wollen von diesen Figuren lernen oder Neues mit ihnen erzählen.
Wie wichtig war ein gewisser Grad an Humor in der Umsetzung?
Mit Humor schafft man eine Zugänglichkeit und Leichtigkeit, um sich auf gewisse Themensachverhalte einzulassen. Auch die dyke dogs Veranstaltungen, die ich an der Berliner Schaubühne mache, haben eine humoreske Note. Das ist im Sinne der queer-feministischen Community, in der permanent ernste und wichtige Themen behandelt werden, die für viele Zugehörige zur Lebensfähigkeit beitragen. Wir nutzen Humor als Strategie der Gemeinschaftlichkeit, ohne dadurch den gesellschaftsverantwortlichen Teil von uns zu schieben.
Cruising Mythology: Ein kollaborativer Schaffensprozess
„Cruising Mythology“ umfasst Talks, Performances und Workshops von rund 25 Kunstschaffenden. War dieser Umfang von Anfang an geplant oder ist er im Schaffensprozess gewachsen?
Meine Arbeitspraxis ist durch und durch kollaborativ. Ich arbeite immer mit Menschen, die Konzepte und Ideen mitgestalten. Wir wussten direkt, dass wir für dieses Symposium unterschiedliche Kooperativen mit reinholen wollen, die durch Community-Arbeit unmittelbar in der Stadtgesellschaft wirken und nicht zwingend einen Theaterbackground haben. PARKS/HALLO: e. V. ist mit dabei und dafür ein gutes Beispiel. Wenn unterschiedliche Perspektiven neu auf den künstlerischen Prozess blicken, wird es für mich im theatralen Kontext richtig interessant. Der Brückenschlag in die Stadt war von Anfang an im Fokus. Auch den Fuck Yeah Sexshop haben wir aus dem Gedanken heraus frühzeitig gefragt, ob sie Lust hätten, Workshops anzubieten.
Der Brückenschlag in die Stadt war von Anfang an im Fokus.
Lynn Takeo Musiol
Zusätzlich zur Theorieebene probieren wir gewonnene Erkenntnisse oder Denkansätze gleich in der Praxis aus. Es macht einen Unterschied, ob ich mich mit Frontalperspektive berieseln lasse und in meiner eigenen Emotion gefangen bin, oder ob ich in einem Raum, der geöffnet wurde, Erfahrungen teile und mich austausche. In feministischer Tradition ist das Teil meiner Arbeitspraxis. So hatte ich von Anfang an den Anspruch, verschiedene Formate und Variationen zu finden, in denen man sich der Antike aus unterschiedlichsten Blickwinkeln und mit verschiedenen Sinnen nähern kann. Wir würden uns freuen, wenn sich die Besuchenden bei jeder Veranstaltung ein bisschen überraschen lassen.
Was kann das Publikum vom 16. bis 23. September im Idealfall aus dem Symposium mitnehmen?
Hoffentlich, dass es total schön ist, wach und offen auf die Welt zu gucken und dass es etwas sehr Lustvolles und Schönes sein kann, die eigenen Geschichten so erzählt zu bekommen und gleichzeitig selber zu erzählen. Ich erhoffe mir, dass das Miteinander und das Weiterspinnen der Frage „Wie wollen wir eigentlich gemeinsam leben?“ nachdrücklich resoniert.