Edina Müller wurde am 25. April 2022 zum zweiten mal zu Hamburgs Sportlerin des Jahres gewählt. SZENE HAMBURG Divers(c)city war mit der Paralympics-Siegerin in ihrer Heimatstadt unterwegs und hat ihre Lieblingsorte besucht. Eine Tour mit Sohn Liam, auf der Suche nach Barrierefreiheit
Text: David Hock
Als Edina Müller und ihr Sohn Liam auf mich zurollen, linst die Sonne hinter den Wolken hervor. „Hallo David“, grüßt mich der Dreijährige fröhlich und pustet die letzten Seifenblasen aus der Dose. Zuletzt begegneten Edina und ich uns bei der Rollstuhl-Basketball-WM 2018 in Hamburg. Da war Liam noch gar nicht auf der Welt – und seine Mama noch nicht Paralympics-Siegerin von Tokio 2020 im Kanu. Doch heute geht es nicht nur um Sport. Unser Treffen führt uns an verschiedene Orte Hamburgs. Edina und Liam wollen mir zeigen, wo sie privat gern unterwegs ist. Immer mit Blick auf mögliche Barrieren. Wir starten an den Alsterwiesen. „Siehst du die Brücke?“, fragt Edina und zeigt auf das Bauwerk am gegenüberliegenden Ufer. „Rechts daneben geht es rein zum Kanu Club.“
Dort, in der Hohenfelder Bucht, haben wir uns im Frühjahr 2016 zum ersten Mal getroffen. Sie stand damals vor ihrer ersten Paralympics-Teilnahme im Kanu, nachdem sie 2008 in Peking (Silber) und 2012 in London (Gold) mit den Rollstuhl-Basketballerinnen gewonnen hatte. Am 14. September 2016 durfte ich live erleben, wie sie in der Lagune Rodrigo de Freitas nahe der Copacabana in Rio de Janeiro bei den Olympischen Spielen 0,015 Sekunden nach ihrer britischen Rivalin als Zweite ins Ziel fuhr. Fünf Jahre später klappte es sogar mit Gold – allen Pandemiewidrigkeiten mit der Verschiebung der Spiele, umständlicher Akkreditierung für Liam und dem Verbot von Zuschauer:innen zum Trotz.
Ziel Paris 2024
Bis zu den nächsten Spielen sind es weniger als drei Jahre: „Paris würde ich gern noch machen. Auch wenn ich gucken muss, dass ich mit meinen Kräften haushalte“, sagt die Spitzensportlerin. Im Winter trainiert Edina sie auf dem Ergometer und im Kraftraum in Allermöhe. Aufs Wasser gehe sie wieder, wenn es mindestens acht Grad habe und windstill sei. „Aufgrund meines Querschnitts friert mein Unterkörper komplett durch und wärmt draußen dann auch nicht wieder auf. Da kann ich mich oben so viel bewegen, wie ich möchte.“
Auch an Land wird es jetzt ungemütlich; eine dunkelgraue Regenfront hat die Außenalster überzogen. Wir steuern trotzdem noch die Brücke des Anlegers Rabenstraße an, wie auch eine jüngst fertiggestellte Behindertentoilette, die mir auf meiner letzten Joggingrunde aufgefallen war. Ein weiteres Plus des breiten, ebenen Spazierwegs mit bestem Hamburg-Blick auf Elphi, Michel und Co. Nur die Spielgeräte, auf denen Liam herumturnt, sind über den vom Regen durchnässten Boden heute mit Rollstuhl nicht erreichbar. Da ist der Spielplatz in der Neustadt, den wir als Nächstes anvisieren, deutlich attraktiver.
Wenn wir draußen vorm Restaurant nett zusammensaßen, bin ich zwischendurch zu Hause auf die Toilette gegangen
Edina Müller
Hamburgs erster inklusive Spielplatz
„Onkel Rudi“ habe ich im Internet gefunden, als ich nach inklusiven Spielplätzen gesucht habe. 2019 eingeweiht ist er Hamburgs erster Spielplatz, bei dem von Beginn der Planungsphase an Barrierefreiheit für Mobilitäts- und Seheinschränkungen einbezogen wurde. Er ist in der Neustadt, der Michel ragt mit seinem Kirchturm im Hintergrund hervor. Auch die Sonne hat sich zurückgekämpft, lässt die orangenen Spielgeräte erstrahlen. Unser Dreiergespann geht auf Entdeckungsreise: Als Erstes landen wir auf einem Karussell. Liam und ich nehmen Platz, Edina rollt in eine Lücke zwischen unseren Sitzen und gibt Anschwung. Liam grinst. Ich mache Fotos. Als ich fertig bin und vom Handy hochschaue, wird mir abrupt schwindelig. „Gern noch mal in die andere Richtung zum Ausdrehen“, sage ich kleinlaut. Ein paar Minuten später bin ich wieder erholt und frage Liam, ob ich zu ihm in den Korb darf, in dem er schon eine Weile schaukelt.
Dass Edina auch hier ohne Probleme Schwung geben kann, ist auf Spielplätzen keine Selbstverständlichkeit. In der Regel stehen die Geräte im Sand. Hier haben alle Stationen mindestens an einer Seite einen Zugang über Gummiboden. Und so probieren wir fast alles aus; die Trampoline, das Klettergerüst, die Wippe. Nur von der Rutsche, die auf einem Hügel fast majestätisch gelegen rechts und links über stufenlose Wege erreichbar ist, können wir Liam erfolgreich abhalten; der Boden am Fuß der Rutsche steht komplett unter Wasser. Unsere Schuhe und Hosenenden sind voller Matsch. „Ich habe Wechselkleidung für den Spielplatz dabei. Sie liegt halt nur im Auto“, sagt Edina. Das steuern wir dann auch an.
Ab in die alte „Hood“
Es steht ja auch die nächste Etappe an auf unserer Tour an: Veringstraße, Wilhelmsburg. Das ist Edina Müllers alte „Hood“. Über Bergedorf im Jahr 2011 ist sie 2013 hierhergezogen, nach dem Studium der Rehabilitationspädagogik an der Uni Köln und Mitarbeit als wissenschaftliche Hilfskraft an der Deutschen Sporthochschule.
Im Inselpark südlich der Elbe hat sie in der Rollstuhlbasketball-Mannschaft des HSV gespielt – mit Niko, der vor dem Umzug ihr sportlicher Gegner war, und dann ihr Lebenspartner geworden ist. „Ach, das war schon schön hier“, kommt Edina ins Schwärmen, als wir in die Veringstraße einfahren, wo sich Restaurants, Cafés, Gemüsehändler und Wettbüro aneinanderreihen.
Edina kommt ins Erzählen: „Im ‚Knusperkeks‘ waren wir gern. Als ich zu Beginn meiner Schwangerschaft mit Übelkeit zu tun hatte, habe ich bei unserem Italiener oft bestellt, Pizza ging am besten. Dann machte auch noch ein Sushi-Laden auf, da dachte ich: Jetzt sind wir gut aufgestellt.“ Doch spätestens als Liam die nun fünfköpfige Patchwork Familie verstärkte, wurde die Drei-Zimmer-Wohnung am Stübenplatz zu eng. „Wir wären gern geblieben, haben hier in Wilhelmsburg auch angefangen zu suchen. Unser Radius ist dann aber immer größer geworden.“ Gelandet ist die Familie schließlich in einem Bungalow im niedersächsischen Stelle. Dass die Elbinsel ein Stück Heimat geblieben ist, spüre ich. Als wir aussteigen, treffen wir einen Vater mit Kind, die Edina noch von früher kennt. Sie plaudern.
Warum Wilhelmsburg (noch) nicht barrierefrei ist
Im Sommer sei es in Wilhelmsburg besonders schön gewesen. Denn dann habe sie die Außenplätze der Lokale nutzen können. Edina klärt mich über einen großen Nachteil des Stadtteils auf: Nach der großen Hamburger Sturmflut seien die Böden aller Häuser ein paar Stufen hochgesetzt worden. Rollstuhlgerecht ist also Fehlanzeige. „Wenn wir draußen vorm Restaurant nett zusammensaßen und es gar nicht mehr ging, bin ich zwischendurch zu Hause auf Toilette gegangen.“ Vier Straßen weiter östlich kommt Barrierefreiheit indes in Bewegung: Auf 47 Hektar plant die städtische Entwicklungsgesellschaft IBA Hamburg das Elbinselquartier mit 2100 Wohneinheiten und 18 Hektar Freifläche. Ziel sei laut Unternehmen, „ein Quartier zu schaffen, in dem sich die Interessen aller Beteiligten wiederfinden und wohlfühlen“. Inklusion ist dabei ein Aspekt.
Fortschritte werden gemacht
Die Stadt Hamburg bemüht sich mit dem regelmäßig überprüften und weiterentwickelten Landesaktionsplan seit 2012, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Konkret geht es dabei unter anderem um den barrierefreien Ausbau des ÖPNV, Schaffung von barrierefreiem Wohnraum oder Informationsangebote in Leichter Sprache. In Edinas Berufsalltag als Sporttherapeutin im Klinikum Boberg geht es darum, Menschen nach einem Arbeitsunfall für eine Rückkehr in den Alltag vorzubereiten. Sie erstellt in einer Erstaufnahme zunächst individuell einen Trainingsplan. In einer großen Halle mit unterschiedlichen Stationen betreut sie dann fünf Patient:innen pro Stunde.
Ihre eigene Geschichte – 2000 erlitt sie in Folge eines Reitunfalls ihre Querschnittlähmung – empfindet Edina im Job als „großen Vorteil“: „Mir können die Patienten zum Teil ganz andere Fragen stellen als Fußgängern.“ Ihre Sportkarriere hält sie im Job bewusst im Hintergrund. „Die Patient:innen sind an einem ganz anderen Punkt. Da brauche ich erst mal nicht mit Medaillen zu winken.“ Ihrem Arbeitgeber ist sie dankbar, dass er sie seit Beginn vor zehn Jahren unterstützt, Beruf und Spitzensport zu vereinbaren: „Ich arbeite in Teilzeit, bin aber für alle Wettkampf- und Trainingsmaßnahmen freigestellt, muss da also keinen Urlaub nehmen.“
Die Patient:innen sind an einem ganz anderen Punkt. Da brauche ich erst mal nicht mit Medaillen zu winken
Edina Müller
Ein richtig schöner Nachmittag
Auch für unsere Tour muss Edina Müller keinen Urlaub nehmen. Am Freitagnachmittag hat sie regulär frei. Als es anfängt zu dämmern, bedanke ich mich und will mich verabschieden. „Kommst du mit essen?“, fragt mich Liam. Ein paar Minuten später sitzen wir im Imbiss „Pause“ auf dem Stübenplatz. Der Eingang hier ist ohne Stufe. Der Betreiber freut sich, Edina nach mehr als einem Jahr wiederzusehen. Liam fährt mit seinen Spielzeugautos um die Gewürzstreuer Parcours. Wir alle haben ordentlich Hunger nach fünf Stunden auf Achse. Irgendwann ist dann aber wirklich Zeit, Tschüss zu sagen. Ich setze mich in einen Bus gen Norden, Edina und Liam ins Auto in Richtung Niedersachsen.
Ich lasse die Bilder der letzten Stunden Revue passieren, sehe uns drei an den verschiedenen Orten. War das jetzt eigentlich ein journalistischer Termin, bei dem wir Hamburg auf Barrierefreiheit geprüft haben? Oder einfach ein richtig schöner Nachmittag? Wahrscheinlich beides. Wir haben erlebt, dass Barrierefreiheit an einzelnen Stellen nachgebessert (Toilette an der Alster), bei neuen Projekten aber auch grundsätzlich mitgedacht wird (Spielplatz „Onkel Rudi“), und anderswo – wie in der Veringstraße – einfach noch fehlt. Und dass dies zu einem gewissen Grad wettgemacht werden kann, wenn das Miteinander auch einander zugewandt, ja inklusiv ist. Und eines kann ich ganz sicher ich sagen: Auf „Onkel Rudi“ hätte ich wieder Lust.
Zur Person
Edina Müller wurde kurz nach ihrem Umzug in die Hansestadt 2012 zum ersten Mal „Hamburgs Sportlerin des Jahres“. Mit Prominenz und Expertise ist die 38-Jährige in der Stadt aktiv, wenn es um Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe geht. Ihre Haltung: „Wenn wir in einer diversen Gesellschaft leben möchten, müssen die einzelnen Personengruppen in Entscheidungspositionen.“ Müller ist im Kuratorium der Alexander-Otto-Sportstiftung, Jurorin beim Werner-Otto-Preis sowie beim HanseMerkur Preis für Kinderschutz. Im Sommer 2021 reichte sie mit Marinus Bester und Philipp Wenzel eine Kandidatur für das Präsidium des Hamburger Sportvereins ein. Der Beirat ließ die drei als Team nicht zur Wahl zu.