SZENE HAMBURG: Luisa und Eva, warum war es euch ein Anliegen, ein Buch zum Thema Tod zu machen? Gab es einen konkreten Anlass?
Luisa Stömer: Der konkrete Anlass war das unbefriedigende Ergebnis der Überlegung, dass nichts sicherer ist, als dass wir geliebte Menschen und unsere eigenen Leben irgendwann an den Tod verlieren werden, wir aber gleichzeitig auf nichts weniger vorbereitet sind als auf das.
Eva Wünsch: Wir hatten kein Vokabular, keine Übung im Gespräch, keine Anknüpfungspunkte. Das ist aber kein individuelles Problem, dieses Schweigen über den Tod ist sozialisiert und stellt ein großes gesellschaftliches Hemmnis dar; ein Tabu, das eine Abwehrhaltung vor sich herschiebt UND nach sich zieht.
Der Anlass war also der, einen Anlass zu schaffen, um sich anlasslos dem Thema zu widmen.
Luisa: Genau, denn das Ergebnis des Verdrängens all der Dinge, die mit Sterben, Tod, Trauer und Verletzbarkeit zu tun haben, wird sein, dass uns das allen irgendwann auf die Füße fällt. Dabei geht es nicht nur um diejenigen, die den Tod abwehren, sondern auch um die, die keine Chance haben, ihn zu verdrängen und sich dann alleine gelassen fühlen. Wir wollten daher ein Buch machen, das Kommunikation ermöglicht – mit sich selbst und mit anderen.
„Schwellenangst“: So erklärt sich der Buchtitel
Ein anderes Tabuthema habt ihr 2016 in eurem gemeinsamen Buch „Ebbe & Blut“ verarbeitet, in dem es um den weiblichen Zyklus geht. Geht es euch darum, vermeintliche Tabuthemen in die Öffentlichkeit zu tragen?
Luisa: Uns geht es darum, konstruktiv und selbstbestimmt Ist-Zustände zu hinterfragen und Denkanstöße zu geben. Mit der Erfahrung, dass Wissen zu einer aufgeklärteren und offeneren Gesellschaft beitragen kann, beschäftigen wir uns seit vielen Jahren – mit einem wachsenden Themenkatalog von feministischer, sexueller sowie medizinischer Aufklärung und gesellschaftspolitischen Themen. Für uns als Gestalterinnen ist es besonders wertvoll, unseren Beruf mit einem Mehrwert verknüpfen zu können, indem wir die eigenen Fähigkeiten einsetzen, um auf Themen aufmerksam zu machen.
Dieses Schweigen über den Tod ist sozialisiert und stellt ein großes gesellschaftliches Hemmnis dar
Eva Wünsch
Das Sterben und den Tod zu begreifen, ist ja für jeden Menschen schwer. Im Prolog eures Buches habt ihr das sehr schön und plastisch mit den Worten beschrieben: „Sterben ist eine Schwelle. Und der Tod ist der Raum jenseits der Fußmatte.“ Wie seid ihr darauf gekommen?
Luisa: Näher betrachtet besteht zwischen Sterben und Tod ein klarer Unterschied. Sterben ist ein Prozess, der mal länger, mal kürzer andauern kann, der aber noch zum Lebendig-sein gehört. Der Tod ist der Moment danach. Das absolute Ende jeden Prozesses – ein Zustand.
Eva: Ein irreversibler noch dazu.
Luisa: Und ein Rätsel.
Eva: Nach dem Sterben und mit dem Tod beginnt der unbekannte Raum der Spekulation. Einigen bekannten Betrachtungsweisen zufolge endet jede Existenz mit dem Punkt des Todes, andere Annahmen behaupten, das Unbekannte, das auf das Sterben folgt, sei einfach ein weiteres Leben. Wenn Sterben also der Gang zu einer Art Tür ist, eine, die in einen Raum führt, von dem kein Mensch weiß, was sich darin verbirgt.
Luisa: Die ultimative Schwellensituation.
Sprache und Bild arbeiten zusammen
Wie habt ihr ausgewählt, welchen Fragen zum Tod ihr nachgehen wolltet?
Luisa: Wir haben unseren Fokus auf gesellschaftliche Ungleichverhältnisse gelegt, die nicht nur das Sterben bestimmen, sondern sich über den Tod hinaus fortsetzen. Denn der Tod eines Menschen muss immer im Kontext seiner Lebensumstände betrachtet werden. Besonders gut situierte bürgerliche Familien verewigen sich mit imposanten Gräbern, mit Gruften und Familienruhestätten, während sich der Tod der Armen schon immer durch seine Spurenlosigkeit auszeichnet. Solche Dinge werden erst sichtbar, wenn wir Räume und Gelegenheiten für Diskurse und Austausch zum Thema Tod schaffen.
Ihr habt das Buch ja nicht nur geschrieben, sondern auch illustriert. Was war euch bei der Illustrierung wichtig?
Eva: Die Gestaltung dient als zweite Verständnisebene. Als Einladung, sich niedrigschwellig und auf anderem Wege mit dem Tod zu beschäftigen. Dort wo Sprache und Kognition an ihre Grenzen stoßen, kann das Bild für Verständnis sorgen.
Luisa: Wir illustrieren seit Jahren zusammen und haben mittlerweile eine sehr dialogische Arbeitsweise entwickelt: Eine beginnt, die andere übernimmt und so kommt es zu einem mehrschichtigen Bildaufbau, der immer aus uns beiden besteht. Dieses Hin und Her, das automatische Abgeben von Kontrolle über das fertige Bild, passt gut zu den Prozessen der Auseinandersetzung mit dem Tod: Es geht viel ums Loslassen und darum, mit dem Vorgefundenen angemessen umzugehen.
Der Tod eines Menschen muss immer im Kontext seiner Lebensumstände betrachtet werden
Luisa Stömer
Hat es euch geholfen, dass ihr euch dem Thema Tod nicht alleine nähern musstet?
Eva: Auf jeden Fall. In unserer Arbeit zu zweit können wir uns gegenseitig gut auffangen und unterstützen. Das klappt nicht nur im Zeichnen oder Schreiben, sondern auch durch unsere Freundinnenschaft. Wir haben uns sehr viel ausgetauscht in der Zeit, auch in einem langem digitalen Briefwechsel, der während der Zeit der Recherche zwischen uns eine neue Ebene des Austauschs möglich gemacht hat.
„Schwellenangst“ beinhaltet Death-Positivity-Manifesto
Glaubt ihr, dass ihr dem Thema Tod, solltet ihr gezwungen sein, euch in absehbarer Zeit damit beschäftigen zu müssen, nun „besser/gesünder“ begegnen würdet?
Luisa: Weniger schlimm wird es sicher nie – egal, wie sehr man sich zuvor theoretisch damit beschäftigt hat. Trotzdem kann das Wissen über das Thema einem in einer sowieso überfordernden Situation etwas mehr Spielraum verschaffen.
Im Anhang des Buches befindet sich ein „Death-Positivity-Manifesto“. Was hat es damit auf sich?
Luisa: Das Manifest kommt von dem Kollektiv „The Order of the Good Death“, einem Zusammenschluss aus Fachpersonal, Akademikerinnen und Akademikern sowie Künstlerinnen und Künstlern, die nach neuen Wegen suchen, dem Tabu um den Tod mit praktischen Lösungen zu begegnen. Seit ein paar Jahren wächst die Death-Positivity-Bewegung, die sich für die Enttabuisierung des Todes einsetzt. Deren erster Grundsatz lautet: „Ich glaube, dass es der Gesellschaft mehr schadet als nützt, wenn Tod und Sterben hinter geschlossenen Türen versteckt wird.“
Eva: Das Wort „Positivity“ meint hier natürlich nicht, den Dingen eine hohle Positivität überzustülpen, sondern sie mit einer offenen Form der Hinwendung zu betrachten und dadurch schrittweise zu verändern.
Luisa: Um „ehrliche Gespräche über Tod und Sterben als Grundstein einer gesunden Gesellschaft“ anzusehen, wie das Manifest besagt.
Das Miteinander hilft
Habt ihr Angst vorm Sterben?
Eva: Klar haben wir Angst davor. Noch ein bisschen mehr vor dem Sterben der anderen als vor dem eigenen. Aber drüber reden hilft. Sich zu verbinden im Gleichklang des Muffensausens ist schon mal was.
Ihr habt bei der intensiven Auseinandersetzung mit dem Tod sicherlich auch vieles gelernt. Was ist euch davon am meisten hängen geblieben?
Luisa: Am eindrücklichsten bleibt zurück, dass die Auseinandersetzung mit dem Lebensende letztlich viel mehr mit dem Leben zu tun hat als mit dem Tod. In den letzten Jahren haben wir die eigene Haltung oft verändert und versucht, absolut alles über Sterbeprozesse oder kompostierbare Urnen zu lernen, haben Sinnfragen verworfen, wollten Bestatterinnen werden und sind zu Agnostikerinnen geworden. Wir haben mehr denn je kapiert, dass ein Buch über den Tod zu schreiben vor allem bedeutet, sich Gedanken über Lebensverhältnisse zu machen.
Eva: Und dass nichts wirklich hilft, außer das Miteinander.
Luisa Stömer und Eva Wünsch: „Schwellenangst: Annäherungen an einen anderen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer“, Verlag Antje Kunstmann, 288 Seiten, 34 Euro
Dieses Interview ist zuerst in SZENE HAMBURG 01/2025 erschienen.