Es ist einer der letzten schönen Spätsommer-Spieltage der Fußball-Bundesliga. In der Geschäftsstelle des FC St. Pauli (FCSP) im Millerntor-Stadion sind die Vorbereitungen für die Begegnung am Abend, zu Gast ist RB Leipzig, schon in vollem Gange. Dort händigt Antje Grabenhorst Funkgeräte an die acht weiteren Personen im Raum aus. „Denkt bei den Funksprüchen dran: Kurz. Laut. Und deutlich.“ Antje koordiniert seit Anfang des Jahres die Awareness-Arbeit beim FCSP. Die Schaffung ihrer Stelle ist einer Arbeitsgruppe, bestehend aus FCSP-Mitarbeitenden verschiedener Fachbereiche, Vertretenden der Faninitiative Arbeitskreis (AK) Awareness sowie Personen aus dem Fanladen zu verdanken. Gemeinsam haben sie schon vor dem Aufstieg des FCSP das Awareness-Konzept „Paulin“ für den Verein entworfen.
Ziel ist es, von Grenzüberschreitung oder Diskriminierung Betroffenen und Hilfesuchenden beizustehen. Gleichzeitig geht es um Prävention: Denn wenn alle achtsamer miteinander umgehen, persönliche Grenzen wahren und sich in andere Perspektiven hineinversetzen können, werden Grenzen gar nicht erst überschritten. Der Stadionbesuch könnte so für alle Menschen angenehmer und sicherer werden.
Ehrensache: Awareness-Teams beim FCSP arbeiten ehrenamtlich
„Es muss Awareness-Konzepte auch im Fußball geben, nicht nur im Nachtleben“, sagt Antje, die Anfang 2019 das Netzwerk gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt im Fußball mitbegründet hat. Der FCSP ist nicht der erste Verein, der die Strukturen dafür geschaffen hat, der SV Darmstadt 98 und Arminia Bielefeld etwa haben sich früher mit dem Thema auseinandergesetzt. Auch der Hamburger SV hat seit 2020 eine Anlauf- und Schutzstelle für Hilfe- und Ratsuchende, die Diskriminierung oder Gewalt im Stadion (mit-)erlebt haben. Allerdings haben längst nicht alle Vereine ein so umfassendes Konzept wie der FC St. Pauli. Dazu gehört unter anderem, dass mindestens vier mobile Awareness-Teams – für jede Tribüne eins – an Heimspieltagen im Millerntor-Stadion im Einsatz sind. Im besten Fall gibt es ein fünftes als Back-up, das auf der unübersichtlichen Gegengerade unterstützt. Im Gästeblock ist kein Team positioniert, um Konflikte mit den gegnerischen Fans zu vermeiden.
Ein Team besteht aus zwei Personen, von denen mindestens eine weiblich gelesen wird. Die Awareness-Volunteers hat Antje ausgewählt. Aktuell umfasst die Gruppe 17 Helferinnen und Helfer und ist vollständig, Interessierte können sich auf eine Warteliste setzen lassen. Die Fluktuation ist allerdings gering: Abgesehen von einer Person sind alle Mitglieder seit dem ersten Einsatztag am 10. März 2024 gegen Hertha BSC noch dabei. Sie arbeiten ehrenamtlich, kommen zwei Stunden vor Spielbeginn zu Briefing und Team-Einteilung zusammen und zeigen bis zu drei Stunden nach der Partie noch Präsenz, etwa im VIP-Bereich, den Museums- und Fanräumen. Bei jedem Einsatz gibt es Essens- und Getränkemarken für die Volunteers, Heimspiele, bei denen sie nicht arbeiten, können sie kostenlos besuchen.
Fußball ist schon noch ziemlich männlich geprägt
Antje Grabenhorst
Erkennungsmerkmal: Lila Awareness-Westen
Awareness-Vorkenntnisse sind nicht unbedingt erforderlich, denn die Mitglieder erhalten nach ihrer Auswahl eine ausführliche Schulung sowie Weiterbildungen, etwa zum Verhalten bei Panikattacken. „Ich gucke immer: Was ist die Motivation der Person und ihr Hintergrund? Ich find es wichtig, dass die Leute ein gutes Mindset haben, zum Beispiel betroffenenorientiert handeln“, erklärt Antje. So wie Julia und Andreas. Die beiden bilden an diesem 4. Spieltag der Saison 2024/25 ein Awareness-Pärchen auf der Haupttribüne. Sie hat in ihrer Heimat Darmstadt eine Kinder-Feldhockey-Mannschaft betreut und war in Hamburg auf der Suche nach einem ähnlichen Ehrenamt im Sportbereich. Er arbeitet mit Menschen mit Behinderung und hat in der Vergangenheit schon mitbekommen, wie sich Personen im Stadion diskriminierend geäußert haben.
Julias und Andreas’ erster Weg führt sie zum Rückzugsraum, den es auf jeder Tribüne gibt. Mit ihren lilafarbenen Awareness-Westen stechen sie in den mittlerweile von Fans bevölkerten Gängen des Millerntor-Stadions hervor – und sind Anlaufstelle für Orientierungslose. „Wie komme ich zum Ballsaal?“, „Wo finde ich die nächsten Toiletten?“, solche Fragen beantworten die beiden geduldig und mit einem Lächeln.
Den Rückzugsraum, einen funktional eingerichteten und mit einer Trennwand räumlich vom Rest separierten Bereich, checken Julia und Andreas auf Vollständigkeit. Sie finden dort drei Stühle, Getränke und einen Notfall-Beutel. Darin enthalten sind Pflaster, Taschentücher, Tampons, Traubenzucker, Schokolade, eine Liste mit Notfallnummern, ein Zettel für Atemübungen und K.o.-Tropfen-Teststreifen. Denn fünf Verdachtsfälle wurden den Awareness-Teams in der Vergangenheit bereits gemeldet. Sicher bestätigt werden konnte keiner davon, weil die Vorfälle erst im Nachhinein gemeldet wurden. Die Teststreifen dienen dazu, verdächtige Getränke zu checken, im Körper nachgewiesen werden können die Drogen dagegen nur, wenn zeitnah Blut abgenommen wird. Dafür müssen die betroffenen Personen ins Krankenhaus. Generell übergeben die Awareness-Teams medizinische Fällen an die Sanitäterinnen und Sanitäter vom Deutschen Roten Kreuz (DRK).
Die Reaktionen der FCSP-Fans
Je näher der Anpfiff rückt, umso mehr steigt bei einigen Fans auch die Alkohollaune. Sie werden kontaktfreudiger. „Noch ein bisschen mehr mit dem Hintern wackeln“, kommentieren zwei vorbeilaufende Männer, Mitte 50, scherzhaft, während Aufnahmen von Julia und Andreas für diesen Artikel entstehen. Später nähert sich eine Person Andreas, stellt sich dicht vor ihn und fährt mit den Fingern über den Schriftzug auf seiner Weste. „Was ist denn dieses Awareness?“, lallt sie. Es scheint, dass gerade die Instanz grenzüberschreitendes Verhalten herausfordert und erfährt, die es eigentlich verhindern soll. Im Allgemeinen findet das Konzept des FCSP aber großen Anklang.
„Ich erinnere mich, dass es 2021 eine Umfrage des AK Awareness zu grenzüberschreitendem Verhalten im Vereinsumfeld gab, über dessen Auswertung ich nicht überrascht, aber doch ein wenig enttäuscht war. Umso wichtiger, dass aus diesem AK das Awareness-Konzept hervorgegangen ist, wie wir es seit diesem Frühjahr kennen“, meint ein Fan. Jedoch wissen nicht alle, wie sie das Awareness-Team am schnellsten erreichen können. „Auch wenn ich es gerade für einen Verein wie St. Pauli recht spät finde, begrüße ich es sehr, dass wir ‚Paulin‘ haben. Ich wüsste spontan aber nicht, wo genau ich hin müsste und würde mich an Ordner wenden und hoffen, die sind geschult, mich weiterzuleiten“, sagt eine Besucherin.
Unterstützung per App: „Safer Spaces“
Tatsächlich ist es nicht einfach, eines von vier Awareness-Teams in einem ausverkauften Millerntor-Stadion unter rund 30.000 Menschen zu spotten. Deshalb gibt es fixe Anlaufstellen auf den Tribünen, wo sich die lila Westen vor und nach dem Anpfiff sowie in der Halbzeit aufhalten. Außerdem arbeiten Antje und ihr Team mit der App „Safer Spaces“, über die Kontakt zur Awareness hergestellt werden kann. Das Servicepersonal im Stadion verfügt dafür über ortsspezifische QR-Codes und eine stabile Internetverbindung, die den genauen Standpunkt anzeigen. Wenn es diese mit dem Smartphone scannt, öffnet sich die App. Das Personal kann Antje dann den Fall kurz schriftlich schildern, worauf sie per Funk ein Team in der Nähe verständigt.
Wer Hilfe sucht, muss sich also zuerst an das Servicepersonal wenden, etwa mit einer diskreten Frage wie „Ist Paulin da?“ oder „Wo ist Paulin?“. Doch warum können die Fans die App nicht direkt nutzen? „Im Stadion besteht keine zuverlässige Internetverbindung“, erklärt Antje. „Dadurch möchten wir verhinden, dass betroffene oder unterstützende Personen in einer Notsituation scheitern und sich dadurch gegebenenfalls entmutigt fühlen, Hilfe zu holen.“ Der Ausbau der Internetverbindung wäre wiederum sehr kostenaufwendig.
Das Handy bleibt in der Tasche
Julia und Andreas haben sich nach dem Anpfiff in einem der Rollstuhl-Blöcke positioniert. Schon nach kurzer Zeit bittet sie ein Zuschauer, etwas zur Seite zu treten. Die große Kunst für die Awareness-Teams ist es, einen Platz zu finden, wo sie niemandem dem Sicht versperren. Einfacher ist es, immer in Bewegung zu bleiben. Von den Rollstuhlplätzen im unteren Bereich der Haupttribüne geht es über die mittleren Blöcke in den VIP-Ticket-Bereich, den Ballsaal, und ganz nach oben zu den Séparées. Auch in den höchsten Rängen sollen Julia und Andreas ein Auge darauf haben, dass sich alle, insbesondere die Servicekräfte, wohlfühlen. Die erste Halbzeit verläuft ruhig, das Funkgerät bleibt still. So bleibt mehr Zeit, das Spiel mitzuverfolgen. Auf das Handy schauen ist während ihres Einsatzes tabu, die Volunteers sollen für Betroffene möglichst immer ansprechbar und aufmerksam sein.
Awareness im Stadion: „Es gibt noch viel zu tun“
Zur Halbzeitpause ist noch kein Tor gefallen. Beim Awareness-Team steht allerdings keine Null mehr. Zwei Fälle wurden an diesem Abend bislang gemeldet, beide in der Südkurve. Eine Person mit einem „Ungeimpft“-Shirt sorgte für Aufsehen und wurde schließlich vom Fanladen überzeugt, den Schriftzug zu überdecken. Zudem bat ein Fan um medizinische Hilfe, der plötzlich nicht mehr richtig hören konnte. Antje Grabenhorst wirkt dennoch zufrieden. „Schön, dass das heute so entspannt ist“, sagt sie.
Die 35-Jährige sitzt als Awareness-Einsatzleitung gemeinsam mit DRK und Security in einem Büro im obersten Stock zwischen Haupttribüne und Südkurve und überblickt den vom Flutlicht erhellten Rasen. Neben ihr liegt ein Fernglas, mit dem sie gelegentlich die Ränge nach den Awareness-Teams absucht. Auf dem Laptop vor ihr ist die „Safer Spaces“-App geöffnet. Genutzt hat sie heute noch niemand. Dennoch glaubt Antje: „Es gibt bestimmt viel mehr Fälle, von denen wir gar nichts mitbekommen, und jeder Fall ist einer zu viel.“
In der vergangenen Zweitligasaison waren es insgesamt 44 Meldungen an fünf Heimspieltagen. Darunter sind Fälle unterschiedlicher Qualität: viele generelle Hilfeleistungen, aber auch sexistische und rassistische Übergriffe sowie andere Diskriminierungsformen. Laut Antje seien Frauen dabei häufiger von sexualisierter Gewalt und Sexismus betroffen. „Es gibt noch viel zu tun. Fußball ist schon noch ziemlich männlich geprägt“, sagt sie. Ob ein Awareness-Konzept ihr das Leben früher als jugendlicher, weiblicher Werder-Bremen-Fan leichter gemacht hätte? „Ich hatte meine Gruppe, mit der ich mich sehr sicher fühlte und die einstanden in Situationen.“ Diesen Rückhalt haben aber nicht alle. Auch deshalb ist Antje beim AK Awareness des SV Werder Bremen involviert, der dort das Konzept „Mika“ angestoßen hat. Mit ihrer Position beim FC St. Pauli hat sie das Thema, das ihr am Herzen liegt, zum Beruf gemacht.
Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG 11/2024 erschienen.