Seltsam geisterhaft fließen die Geschichten, die Bilder, Figuren, die Empfindungen ineinander über – nahezu unbemerkt und seltsam selbstverständlich, verstörend, unheimlich und faszinierend: Das Leben von Alma (Hanna Heckt), die in den Zehnerjahren des 20. Jahrhunderts als Tochter der Gutsherren in dem Vierseitenhof in der Altmark den Traditionen und der Religion verhaftet aufwächst. Durch eine verschwommene Fotografie erfährt sie, dass sie nach ihrer toten Schwester benannt wurde und ist fortan überzeugt, dass sie das gleiche Schicksal ereilen wird. Oder Erika (Lea Drinda), sie lebt in den Vierzigern ebenfalls auf diesem Hof und entwickelt eine gefährliche Obsession für ihren verstümmelten Onkel. Ein Unfall soll ihn das Bein gekostet haben. Und da ist noch Angelika (Lena Urzendowsky), die in den letzten Jahren der DDR zwischen Lebenslust und Todessehnsucht taumelt, in einem brüchigen Familien- und Gesellschaftssystem nach ihrer Freiheit sucht. Nelly (Zoë Baier) kommt mit ihren Eltern und ihrem Bruder um 2020 aus der Großstadt in das ländliche Idyll und wird plötzlich von intensiven Albträumen heimgesucht.
„In die Sonne schauen“: zwischen Vergangenheit und Wahrheit

Die Berliner Regisseurin Mascha Schilinski, die zusammen mit Louise Peter auch das Buch geschrieben hat, verwischt in ihrem kunstvoll inszenierten, eigenwilligen und komplexen Drama die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Sie erzählt von verzweigten Gefühlswelten, als hinterließen die Erfahrungen der Vorfahren Spuren in den nachfolgenden Generationen. Zugleich porträtiert sie wie nebenbei, oft mit kleinen Alltagsanekdoten, ein gutes Jahrhundert deutscher Geschichte, gewährt Einblicke durch Schlüssellöcher und Türspalten, die ihren Protagonisten eigentlich verschlossen bleiben sollten. Sie lassen die Grausamkeiten, Traumata, Geheimnisse nur erahnen. In diesem Jahr in Cannes umjubelt und mit dem Preis der Jury ausgezeichnet, folgt das Drama keiner Chronologie. „In die Sonne schauen“ ist vielmehr ein sinnliches, meditatives, assoziatives Erleben, ein un- und außergewöhnliches Filmereignis. Ein einzigartiger Film.
Diese Kritik ist zuerst in der SZENE HAMBURG 09/2025 erschienen.
Der Trailer zum Film
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