Martin Hyun und Wladimir Kaminer: „Eine Art literarisches Pingpong“

Der ehemalige Eishockeyprofi Martin Hyun hat Anfang der Nullerjahre seine Liebe zum Schreiben entdeckt und bereits einige Bücher veröffentlicht – allerdings noch nie als Teil eines Autorenduos. Doch zusammen mit Wladimir Kaminer hat Martin Hyun nun eine „Gebrauchsanweisung für Nachbarn“ erstellt
Gebrauchsanweisung für Nachbarn
Wissen was gute Nachbarschaft ausmacht: Der ehemalige Eishockeyprofi Martin Hyun und der Bestseller-Autor Wladimir Kaminer (©Piper)

SZENE HAMBURG: Martin Hyun, Sie waren Eishockey-Profi, haben Politikwissenschaften studiert, wurden in den Wiedervereinigungsrat des koreanischen Präsidenten berufen und haben 2008 ihr erstes Buch „Lautlos – Ja Sprachlos – Nein: Grenzgänger zwischen Deutschland und Korea“ veröffentlicht. Was hat Sie damals zum Schreiben gebracht?

Martin Hyun: Meine Reise in die Welt des Schreibens begann im Jahr 2002 während meines Aufenthalts in Südkorea. Dabei spielte ein Buch der Migrationssoziologen Stephen Castles und Alastair Davidson eine entscheidende Rolle. Während meines Studiums in den USA stieß ich auf einen kleinen Absatz, der sich mit der Gastarbeitergeschichte der Südkoreaner in Deutschland beschäftigte. Mein Vater, der die japanische Kolonialzeit und den Korea-Krieg miterlebt hatte, gehört der Silent Generation an, die diese Vergangenheit verdrängte. Obwohl uns unsere Eltern dazu erzogen hatten, den Blick nach vorne zu richten, erkannte ich die Bedeutung der Konstruktion meiner Identität, die auch diese familiäre Vergangenheit einschloss. Das Buch von Davidson und Castles inspirierte mich, mich auf eine Reise in die Vergangenheit meiner Familie zu begeben. Ich begann mit Tagebucheinträgen, aus denen schließlich besagtes Buch entstand.

Sie selbst haben zwar koreanische Wurzeln, sind aber in Deutschland geboren. Warum war es Ihnen ein Anliegen, darüber zu schreiben – was Sie mit Ihrem Buch „Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde“ ja noch ein weiteres Mal getan haben?

Es lag mir am Herzen. Die erste Generation deutsch-koreanischer Migranten ist trotz sechzig Jahren in Deutschland immer lautlos und unsichtbar geblieben, im Gegensatz zur zweiten Generation. Die beherrscht die Sprache und kann sich verbal verteidigen, was für die erste Generation oft nicht möglich war. Seit der Veröffentlichung meines Buches hat sich die Wahrnehmung von Südkorea durchaus auch verändert – von einem armen zu einem wohlhabenden Land mit reicher Popkultur, das kam insbesondere durch den Einfluss von K-Pop und der Hallyu-Welle.

Doch während das sechzigjährige Jubiläum des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens 2021 mit großem Aufwand und öffentlicher Aufmerksamkeit gefeiert wurde, herrschte bei der Behandlung des sechzigjährigen Jubiläums des deutsch-koreanischen Anwerbeabkommens Stille bei den Behörden. Die koreanische Gastarbeitergeschichte hat offenbar keinen Platz in unserer Erinnerungskultur. Die Frage drängt sich auf, ob ihre Geschichte nicht ebenfalls würdig ist, verbreitet und als integraler Teil der deutschen Geschichte anerkannt zu werden. Haben die südkoreanischen Bergarbeiter und Krankenschwestern nicht maßgeblich zum Aufbau des Landes beigetragen und es zu dem gemacht, was es heute ist?

Wladimir Kaminer gab mir das Gefühl, dass auch ein Gastarbeiterkind Schriftsteller werden kann

Martin Hyun

Wladimir Kaminer als Quelle der Ermutigung

„Literarische Liebe auf den ersten Blick“: Martin Hyun über Wladimir Kaminer (©Marcus Höhn)

Mit Ihrem neuen Buch „Gebrauchsanweisung für Nachbarn“ haben Sie sich nun einem anderen Thema gewidmet, und zwar zusammen mit ihrem Freund und Kollegen Wladimir Kaminer. Wie haben Sie sich kennengelernt?

Das war eine literarische Liebe auf den ersten Blick. Als ich mich im Rahmen des Leadership-Programms der Bertelsmann Stiftung für Führungskräfte aus Migrantenselbstorganisationen befand, ergab sich die wundervolle Gelegenheit, Wladimir bei einem Kamingespräch in Berlin zu treffen. Das ist nun schon 16 Jahre her, aber ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Wladimirs faszinierende Lebensgeschichte zog mich sofort in ihren Bann. Sein einzigartiger Schreibstil, seine Gabe, Geschichten zu erzählen und dabei ernste Themen anzusprechen, ohne den Humor zu vernachlässigen, haben mich beeindruckt. Als ich dann vor 16 Jahren an dem Manuskript zu „Lautlos – Ja Sprachlos – Nein“ arbeitete, hatte ich keinen Verlag und keine Gewissheit, dass mein Manuskript jemals das Licht der Welt erblicken würde, und erst recht keine Verbindungen zur Buchindustrie, geschweige denn einen Literaturagenten, der mein Werk Verlagen anbieten konnte.

Wladimirs Sichtbarkeit und sein Erfolg als Schriftsteller waren eine wertvolle Quelle der Ermutigung, für mich die Reise in eine völlig unbekannte Welt anzutreten, die für ein Gastarbeiterkind wie mich in weiter Ferne schien. Also brachte ich ihm zu besagtem Gespräch ein Manuskript mit und bat ihn um seine Meinung. Wladimir lud mich daraufhin ein, am selben Abend in die Russendisko im Café Burger in der Torstraße in Berlin-Mitte zu kommen. Gesagt, getan. Der Dancefloor war überfüllt, und Wladimir wird sich vielleicht nicht mehr daran erinnern, aber mitten auf der Tanzfläche trafen sich unsere Blicke. Er breitete seine Arme aus und rief: „Maarrttin! Ich liebe deine Geschichte!“

Die Worte eines etablierten Autors waren wie Musik in meinen Ohren. Viele meiner Bekannten hielten meine Schreibträume für aussichtslos und Zeitverschwendung. In dieser Situation war Wladimirs positives Feedback eine erhebliche Motivation. In meinem Leben als Sportler hatte ich das Glück, einige großartige Menschen zu treffen, die das Credo von Mark Twain verkörperten: „Halte dich fern von Menschen, die deine Träume kleinreden wollen. Kleine Menschen tun das immer. Große Menschen geben dir das Gefühl, dass auch du groß werden kannst.“ Und genau dieses Gefühl gab mir Wladimir: das Gefühl, dass auch ein Gastarbeiterkind Schriftsteller werden kann.

„Im Wort ‚Nachbarschaft‘ versteckt sich ganz subtil das Wort ‚Arsch‘“

Martin Hyun

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, gemeinsam ein Buch zu schreiben?

Das war nur eine Frage der Zeit. Ursprünglich spielten wir mit dem Gedanken, an einer Graphic Novel zu arbeiten. Doch zu der Zeit schien die Welt der Graphic Novels in den Buchkritiken noch nicht so präsent zu sein wie heute. Die Zeit für unser Graphic-Novel-artiges Abenteuer war also noch nicht gekommen. In Zusammenarbeit mit meiner Lektorin entstand dann die Idee, stattdessen über Nachbarn zu schreiben. Und das Thema ist wie ein Schatzkästchen voller inspirierender Geschichten. Wir haben uns zusammengesetzt, besprochen, wer sich welches Thema schnappt, und dann haben wir losgelegt. Während des Prozesses haben wir immer wieder unsere fertigen Geschichten miteinander geteilt. Es war eine Art literarisches Pingpong, bei dem Ideen hin- und herflogen.

Der perfekte Nachbar: Grillmeister, Misanthrop, Pedant, Liebhaber klassischer Musik und unsichtbarer Beschützer

Was ist das Erste, das Ihnen bei dem Wort „Nachbarn“ in den Sinn kommt?

Im Grunde genommen verbinde ich mit diesem Wort immer etwas Positives. Es hat so viele Dimensionen, von den geografischen Nachbarn bis zu den Sitznachbarn in der U-Bahn. Aber im Wort „Nachbarschaft“ versteckt sich ganz subtil das Wort „Arsch“, und einige Nachbarschaften können durchaus sehr „arschig“ sein. Aber hey, das macht das Leben doch erst richtig würzig, oder?

Ohne allzu viel vom Buch vorwegzunehmen: Was sind die wichtigsten Punkte im vermeintlich richtigen Umgang mit Nachbarn?

Ein kluger Kopf namens John Donne pflegte zu sagen: „Niemand ist eine Insel, in sich ganz, jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents …“. Man könnte sagen, er war so etwas wie der erste Nachbarschaftsphilosoph! Und wirklich: Mauern einzureißen, sei es metaphorisch oder im übertragenen Sinne, ist immer eine gute Idee. In der großen Symphonie der Nachbarschaft lautet die goldene Regel ganz nach dem Motto von Elvis Costello: „Peace, Love and Understanding“. Das ist die Formel für eine harmonische Nachbarschaft.

Was macht einen guten Nachbarn aus?

Ein guter Nachbar für mich sollte definitiv ein Grillmeister sein, der mit seinen kulinarischen Künsten die ganze Nachbarschaft begeistert. Aber gleichzeitig sollte er auch ein Misanthrop sein, damit man seine Ruhe hat und ungestört den eigenen Aktivitäten nachgehen kann. Er sollte auch ein Pedant sein, der darauf achtet, dass alles in der Nachbarschaft ordentlich und sauber ist. Außerdem sollte er auch ein Liebhaber klassischer Musik sein. Stell dir vor, man könnte abends auf dem Balkon sitzen und den wundervollen Klängen von Schostakowitsch oder Mozart lauschen, die sanft durch die Nachbarschaft schweben. Grillmeister, Misanthrop, Pedant, Liebhaber klassischer Musik und unsichtbarer Beschützer – das wäre ein Nachbar, den man sich nur wünschen kann.

Martin Hyun & Wladimir Kaminer: Gebrauchsanweisung für Nachbarn, Piper, 224 Seiten, 16 Euro (erscheint am 14. März 2024)

Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG 03/2024 erschienen.

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