Eine Gabel verschlucken, um zu überleben? Was wie ein schmerzhafter Widerspruch klingt, war für Hamburger Häftlinge etwa in der NS-Zeit oft verlockend: Durch den Fremdkörper kamen sie nämlich kurzzeitig in den Genuss besserer Verpflegung auf der Krankenstation. „Wie verzweifelt muss ein Gefangener gewesen sein, um sich selbst so etwas anzutun?“, fragt Klaus Neuenhüsges und zeigt auf ein Regalfach voll verbogenem Besteck.
Auf 180 Quadratmetern dokumentiert Museumsleiter Neuenhüsges mit Hunderten Exponaten die Gefängnisgeschichte der Hansestadt Hamburg vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Kaum Glasvitrinen, keine Abstandhalter – die Dauerausstellung im Dachgeschoss der JVA Glasmoor in Norderstedt lädt Besucher ein, die mitunter düstere Geschichte des Hamburger Strafvollzugs unmittelbar zu erkunden.
Das 2020 eröffnete Museum geht auf die Sammelleidenschaft eines JVA-Mitarbeiters zurück. „Er hatte einen guten Draht in alle Hamburger Anstalten, um neue Sammelstücke zu ergattern“, erinnert sich Klaus Neuenhüsges. Nach dem Tod des Kollegen sei Neuenhüsges von Anstaltsleiterin Angela Biermann angefragt worden, ob er aus der bestehenden Sammlung das Gefängnismuseum Hamburg entwickeln wolle. „Das war eine spannende Herausforderung für mich“, erzählt der pensionierte Sozialpädagoge, der seit 1980 für die JVA Glasmoor und später als Vorsitzender des Personalrates tätig war.
Die menschliche Komponente
Aus der Hamburger Museumsszene sticht das Gefängnismuseum als Unikat heraus. Es ist nämlich bisher das einzige Hamburger Museum, das mit einem Qualitätssiegel als „Zertifiziertes Museum“ vom Museumsverband Schleswig-Holstein und Hamburg ausgezeichnet wurde. Zwei Jahre dauerte der Zertifizierungsprozess, in dem Klaus Neuenhüsges sich intensiv mit nationalen wie internationalen Standards der Museumsarbeit auseinandersetzte. Auch das Design des Museums ist besonders. Gemeinsam mit zwei Studenten der Hamburger Hochschule für bildende Künste entwickelte Neuenhüsges 2020 ein ansprechendes Ausstellungskonzept, das der Deutsche Designer Club mit der „Auszeichnung in Bronze“ ehrte.
Die wichtigste Komponente des Museums ist jedoch die menschliche: Klaus Neuenhüsges greift bei seinen Führungen auf einen umfassenden Wissensschatz zurück, den er sich über die Jahre angeeignet hat. „Ich will erreichen, dass die Leute verstehen, wie sich der Strafvollzug über die Zeit von Körper- und Leibesstrafen hin zum gegenwärtigen Freiheitsentzug verändert hat“, sagt der 72-Jährige. Insbesondere den Stellenwert der Resozialisierung hebt der Hamburger in seinen Führungen hervor, während er an schweren Handfesseln, selbst gebauten Tauchsiedern und gestreifter Häftlingskleidung entlangschreitet. „Wir vergessen oft etwas enorm Wichtiges für unser gesellschaftliches Miteinander“, so Neuenhüsges. „Der Gefangene, der heute hier ist, ist nämlich der freie Mann von gestern – und von morgen.“
Führungen mit anschließendem individuellem Rundgang durch das Gefängnismuseum Hamburg bietet Klaus Neuenhüsges nur nach vorheriger telefonischer Vereinbarung an. Der Eintritt ist frei, Spenden werden gerne angenommen. Das Museum befindet sich im zweiten Obergeschoss des ehemaligen Beamtenhauses der JVA Glasmoor und ist nicht barrierefrei erreichbar
Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG 05/2024 erschienen.