Dragartist Führung in der Hamburger Kunsthalle

Jeden Monat führen verschiedene Dragartists durch die hauseigene Sammlung der Hamburger Kunsthalle – und überschreiben festgefahrene Bildmuster, sodass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht zwangsläufig nur die Kunstwerke, sondern auch sich selbst neu lesen lernen
Ein charmantes Rendezvous von Kunstwissenschaft und Drag-Kunst: Simon Schultz und dancingsven 
Ein charmantes Rendezvous von Kunstwissenschaft und Drag-Kunst: Simon Schultz und dancingsven  (©Johanna Sprave)

Ein frischer Windstoß scheint durch die prächtige Eingangshalle der Hamburger Kunsthalle zu ziehen, als Dragqueen dancingsven über die breite Marmortreppe hinauf zum ersten Obergeschoss der Lichtwark-Galerie schreitet. Mit ihrem strahlend blonden Wellenhaartoupet unter der breiten Hutkrempe mit floralen Applikationen, die perfekt zu ihrem Blümchenkleid passen, wirkt sie beinahe wie eine fleischgewordene, ins 21. Jahrhundert übersetzte Version der Flora aus Sandro Botticellis „Frühling“. Allerdings tapst sie nicht barfuß über eine Wiese, sondern tänzelt Handküsschen werfend in hochhackigen Stiefeln auf die dort wartenden Besucherinnen und Besucher zu. Gemeinsam mit dem Kunstwissenschaftler und Kulturvermittler Simon Schultz wird sie für die nächsten 90 Minuten durch die Sammlung führen. Ihr Spezialgebiet: die Botanik. Was wuchert und blüht hier auf den historischen Gemälden? Welche symbolischen Codes verbergen sich dahinter und welche Querverbindungen zu queeren Themen ergeben sich womöglich daraus?

Historisches Wissen, Humor und Empowerment: Bei der Dragführung kommt alles zusammen

Zum Auftakt der einmal monatlich stattfindenden „Dragführung“ führen Schultz und dancingsven weit zurück in die spätmittelalterliche Kunst nördlich der Alpen – und kommen vor den um 1435 gemalten Tafeln des sogenannten Meister Francke zu stehen, die, so erklärt Schultz, Szenen aus der Passion, dem Leben Marias und dem Martyrium des heiligen Thomas Becket erzählen, der im 12. Jahrhundert Erzbischof von Canterbury war. „Das ist alles hochinteressant“, unterbricht dancingsven augenzwinkernd, „aber seht ihr, was hier auf dieser einen Tafel bei den Füßen dieser klagenden Frauen auftaucht? Gemeiner Löwenzahn! Wegen seiner harntreibenden Wirkung auch Bettnässer oder Pissblume genannt.

Was macht ihn denn so besonders, dass er auf einem Kunstwerk erscheint?“ Zweifellos ließen sich seine strahlende Sonnenform sowie seine Widerstandsfähigkeit und Verbreitungskraft auf das göttliche Licht oder einen starken Glauben beziehen, würde man sich in einem rein christlichen Deutungsrahmen bewegen – aber nicht mit dancingsven. Auf kecke Weise sprengt er fixe Interpretationsmuster: „Der Löwenzahn ist widerspenstig, ausdauernd, wächst überall und lässt sich nicht vertreiben – genauso wie wir Queers! Egal, was um uns herum passiert, wir bleiben!“

Museumsführung mit Überraschungscharakter: Auch vor mittelalterlicher Kunst lassen sich Querverbindungen zu queeren Themen ziehen (©Johanna Sprave)

Historisches Wissen, Humor, Empowerment: Bei der Dragführung kommt alles zusammen – und auch das Publikum wird mit eingebunden. „Bevor wir weiterziehen“, sagt dancingsven, „habe ich noch ein Quiz für euch: Wer hat’s gesagt? ‚Da wächst ’ne gelbe Blume aus’m Dreck / An einem Fleck, an dem sonst keine Blume wächst / Keiner beachtet sie, alle trampeln drauf / Doch sie gibt nicht auf, / was die Rose kann, das kann sie auch / Wir kämpfen, bis wir irgendwann mal Pusteblumen sind / Und wir warten auf den Wind‘. Na?“ Sofort stehen Goethe und Schiller im Raum, eine andere Person wirft noch Rosa von Praunheim dazu, Schriftsteller und Künstlerikone der queeren Community. „Ja, ne, ist von SIDO“, lacht dancingsven. „Und ich sehe schon, Herr Schultz, du willst weiter, ist ja gut.“ Das humorvolle Wechselspiel aus Schultz’ kunsthistorischer Expertise und der freien Assoziationsfreude von dancingsven überrascht mit alternativen Zugängen zu alter Kunst, pointiert sie zeitgenössisch, baut Barrieren ab und schließt Bedeutungsräume auf.

Die Sprache der Blumen 

Finale Performance: der Lebenszyklus einer Pflanze, tänzerisch dargestellt (©Johanna Sprave)

„Wir wollen Grenzen verschieben und neue Zielgruppen ansprechen: Die Kunsthalle ist für alle offen“, erzählt Schultz. 2023 fand die erste „Dragführung“ statt, mittlerweile gibt es einige queere Formate, die regelmäßig im Museum angeboten werden – initiiert von Jenny Saitzek aus der Abteilung Bildung & Vermittlung an der Hamburger Kunsthalle. „Doch davor“, so Schultz weiter, „hat es einfach nichts gegeben. Diese Lücke haben Jenny und ich gesehen und versuchen sie zu füllen.“ Jeden Monat führen andere Dragartists aus Hamburg durch die Kunsthalle – und repräsentieren so auch die Vielfalt der lokalen Szene. Sie alle haben ihre eigene Stimme, ihre eigenen Themen, die sie mit ins Museum bringen. „Bei dancingsven sind es symbolisch aufgeladene Pflanzen, die je nach Kontext ganz verschiedene Bedeutung annehmen können. Und so kommt man auch mal schnell von der Kunstgeschichte zur Popkultur und rast quer durch die Zeit“, fasst Schultz zusammen. Als sich die Gruppe etwa vor Anselm Feuerbachs „Mandolinenspielerin“ von 1865 versammelt, kommt dancingsven über zwei Pflanzen im Bild und in nur wenigen Sätzen von den christlichen Ur-Eltern Adam und Eva bei Coco Chanel an: seine floralen Assoziativketten machen es möglich – und reißen auch beim großen Finale nicht ab.

Dragartist dancingsven im tänzerischen Grand Finale 

Den Schlusspunkt setzen Schultz und dancingsven mit Philipp Otto Runges Gemälde „Der Morgen“ von 1808. Darauf schwebt Aurora, die Göttin der Morgenröte, in einer mystischen Naturlandschaft über einem im Gras liegenden Baby, flankiert von kindsgleichen Wesen, die in Pflanzen zu leben scheinen – unter anderem in Amaryllisblüten. „Amaryllispflanzen“, erklärt dancingsven, „sind zugleich männlich und weiblich, also hermaphroditisch. Und der Begriff geht zurück auf die mythische Geschichte von Hermaphroditos, dem Sohn von Hermes, dem Götterboten, und Aphrodite, der Göttin der Liebe. Laut dem antiken Dichter Ovid durchläuft er auf ziemlich tragische Weise eine Verwandlung, bei der die zwei Geschlechter zu einem zusammenschmelzen.“ Nur einen Moment später läuft über eine Bluetooth-Box Kate Bushs Song „Moving“ und dancingsven überführt das Verwandlungsthema gemeinsam mit zwei Freiwilligen ins Tänzerische. In schlauchartigen Ganzkörperröcken aus knallbuntem Stoff räkeln, kreisen und wurmen sie sich durch den Museumssaal mit dem Ziel, den Lebenszyklus einer Pflanze darzustellen – und am Ende haben potenziell auch die Besucherinnen und Besucher eine Metamorphose durchlaufen: Denn mindestens all die besprochenen Werke werden sie ab jetzt mit anderen Augen sehen.

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