Exit Holstenstraße

Das Viertel am S-Bahnhof Holstenstraße hat ein Drogenproblem, das die ganze Stadt betrifft. Die Situation ist verworren. Es tut sich was, doch nicht genug. Ein Ortsbesuch
Drogenszene
„Das macht die Leute im Kopf kaputt“: Josha, Mitte 40 (©Nina Schwartz)

Altona. Ein später Nachmittag. Am Holstenbahnhof tummeln sich Menschen mit Pfeifen und Bier. Ein junger Mann robbt vor einem Supermarkt über den Boden. Er sucht nach kleinen weißen Steinen. Er sucht nach Crack. Auf den Bänken vor dem Wohlers Park findet er Nachschub.

Einmal Szene und zurück

Er ist klein und schlank. Sein Gang schnell und zielstrebig. In einer Hand rollt er meist sein Fahrrad, in der anderen hält er ein Getränk. Seine Hand ziert ein Tattoo. Drei Punkte: Ich sehe nichts. Ich höre nichts. Ich sage nichts. Im Alter von elf Jahren entscheidet er sich, von zu Hause wegzulaufen. Er schließt sich Punks und Hausbesetzern an. Es beginnt ein Leben ohne Rast und Ruh.

Heute ist Josha Mitte 40. Mehr als ein Viertel seines Lebens hat er im Gefängnis verbracht. Die meisten seiner Taten waren Beschaffungsdelikte. Alles fängt im Alter von elf an, als er zum ersten Mal kifft. Abhängig wird er von Heroin und Kokain. Beides konsumiert er intravenös im Alter von 18 Jahren. Mittlerweile ist Josha substituiert und mit fester Bleibe. Trotzdem verbringt er seine Tage in der Drogenszene im Viertel am Holstenbahnhof. Crack rauche er nicht. „Nicht mein Turn“, winkt er ab. Außerdem findet er „dieses ewige Gezappel“ der Konsumierenden albern. Er nennt es „Crackdance statt Breakdance“. Eigentlich nerve ihn die Szene sowieso. Nichtsdestotrotz ist er jeden Tag da.

Holstenstraße: Steine, so weit das Auge reicht

S-Bahnhof Holstenstraße
Problem hier nicht zu sehen – aber da: Holstenstraße (©Nina Schwartz)

Josha geht nicht gern durch den Haupteingang in den Wohlers Park und schon gar nicht mit einer Szenefremden im Schlepptau. „Da werde ich immer nur vollgelabert und nach Stein gefragt.“ Crack oder wie es im Szenejargon heißt, „Stein“, ist die am häufigsten konsumierte Substanz rund um den Holstenbahnhof: „Das Problem ist, das macht die Leute im Kopf kaputt. Deren Nervensystem ist vom Ammoniak komplett gefickt, deshalb zappeln die so. Du kannst die auch nicht substituieren, wie bei Shore (Szenename für Heroin; Anm. d. Red.). Ich kann verstehen, dass hier alle komplett überfordert sind“, erklärt Josha, während Kinder neben unserer Bank toben.

Die Drogenszene zwischen Max-Brauer-Allee und Holstenbahnhof: Das sind schätzungsweise 20 Prozent Frauen, die auf 80 Prozent Männer kommen. Der Großteil ist im mittleren Alter. Junge Menschen sind die Ausnahme. Alte Menschen auch. Wer suchtkrank ist, wird nicht alt. Es ist eine heterogene Gruppe, die jedoch in der Sucht miteinander verbunden ist.

Man kennt sich im Viertel. Setzt auf Miteinander statt Gegeneinander. Was fremd ist, ist die Fluktuation in der Szene. Josha erzählt, dass er vermehrt jüngere Menschen am Wohlers Park sehe: „Letztens kam vorne am Eingang ein junges Mädchen auf mich zu. Die sah aus, als hätte sie grad Schulschluss gehabt. Raunt mich an und fragt nach Stein. Ich habe der gesagt, sie soll sich ganz schnell verpissen. Ich habe da keinen Bock drauf. Das ist nicht der Ort für junge Menschen.“

Er schüttelt den Kopf und dreht sich eine Zigarette. Rancho ohne Filter: „Weißt du, ich kann die Anwohnenden hier verstehen, alles hat Grenzen. Und die Leute werden immer fertiger. Eine richtige Freakshow ist das geworden! Hat doch keiner Bock drauf, sich das jeden Tag anzugucken. Eigentlich voll assi, dass gerade ich so was sage. Aber das ist ein Wohnviertel, hier gehört keine Drogenszene hin.“

Drogenszene Holstenstraße: Ein Henne und Ei-Problem

Eine Substitutionsambulanz ist eine medizinische Einrichtung, in der Suchterkrankte unter ärztlicher Aufsicht sogenannte Drogenersatzstoffe verschrieben und verabreicht bekommen. Eine solche Einrichtung befindet sich auch an der Holstenstraße. Für manche ist sie maßgeblich für das Aufblühen der Szene im Viertel verantwortlich. Florian Pittner ist Straßensozialarbeiter bei Palette e. V. und findet, das sei „absoluter Quatsch“: „Die Ambulanz gibt es schon viel länger als die Stein-Szene. Ausschlaggebend ist wohl eher die Vertreibung am Hauptbahnhof. Keiner hat Lust, dort ständig auf dem Weg zum Drob Inn von der Polizei aufgegriffen zu werden. Man sucht sich dann andere zentrumsnahe Plätze, um zu verkaufen und zu konsumieren.“

Ein Ansatz, den auch Nadine Neumann von den Grünen Altona vertritt. Sie geht noch einen Schritt weiter: „Die Verlagerung der Szene an die Holstenstraße ist insofern schwierig, als dass das Drob Inn kapazitär viel umfangreicher ausgestattet ist als die Palette. Wir haben diesen Sachverhalt mit entsprechenden Forderungen schon an die Sozialbehörde gespielt. Leider ohne Erfolg. Der Ausbau der Palette wird dann mit der Begründung, es gebe in der gesamten Stadt genügend Plätze in der Suchthilfe, verneint. Wir brauchen dringend eine gesamtstädtische Zusammenarbeit, um das Problem langfristig zu lösen.“

Als ich Josha davon erzähle, schaut er mich entsetzt an: „Da macht man es sich natürlich schön einfach. Ich kann dir sagen, wie die Szene hier entstanden ist: Genau zwei Leute haben den Stein vom Drob hierher gebracht. Ich könnte sie dir sogar jetzt zeigen. Mittlerweile wird aber nur noch verkauft, um zu konsumieren. Das hat sich alles total verselbstständigt.“

Allein die Frage nach Henne oder Ei zeigt, wie groß die Spannung an der Holstenstraße geworden ist. Florian Pittner sagt mir bei meinem Besuch in der Palette, „das Problem ist, dass die Suchterkrankten keine Lobby haben“. Stattdessen schickt man sie ins Exil an die Holstenstraße. 



Ein Mosaik

Abwohnende an der Holstenstraße protestieren gegen die Drogenszene
Klare Ansage der Anwohnenden (©Nina Schwartz)

Mosaike leben von ihren verschiedenfarbigen und unterschiedlich geformten Elementen, die zum Schluss ein Ganzes ergeben. Im Mosaikbild Holstenstraße heißen die kleinen Teile: Politik, Bezirksamt, Polizei, Sozialarbeit, Kirche, öffentlicher Dienst, Anwohnende und Suchterkrankte.

Carsten Hokema ist Pastor der ansässigen Christuskirche und hat einen ersten Austausch mit allen Akteuren initiiert: „Angefangen hat das 2021, als einige Nachbarn ziemlich deutlich gegenüber den Abhängigen aufgetreten sind und einen Forderungskatalog an die Stadt vorbereitet haben, in dem scharfe Geschosse aufgefahren wurden. Da habe ich mich eingemischt.“ Das Resultat: eine Reihe runder Tische, bei denen sich alle Beteiligten austauschen. Die Lage entspannt sich. Verschlechtert sich dann erneut.

Auf einen konstanten Austausch im Viertel setzt auch die Polizei. Eine Mischung aus „präventiven, repressiven und unterstützenden Maßnahmen“ solle mehr Sicherheit für alle garantieren. Auch für die Suchtkranken. Die Polizei sei „konsequent und im größtmöglichen Umfang mit den zur Verfügung stehenden personellen Ressourcen tätig“, heißt es von der Pressestelle. Kniffelig wird es immer dann, wenn Einsatzkräfte durch mehrtägige Großveranstaltungen, wie kürzlich durch die EM, fehlen. Infolgedessen verschlechtert sich die Situation drastisch. Die Auffassung, dass eine konsequente Bestreifung des Viertels die Sicherheit für alle erhöhen würde, teilt auch Gregor Werner von der SPD Altona. Dies sei aber auch, so erklärt er, der einfachere Weg, als beispielsweise eine neue Stelle in der Sozialarbeit zu schaffen. Liegt nicht genau hier das Problem

Sieg oder Niederlage?

Alle am Holstenbahnhof brauchen Unterstützung. Das weiß besonders die Bezirksversammlung Altona. Sie hat in der Vergangenheit aus bezirklichen Mitteln finanzielle Unterstützung zur Verfügung gestellt. Davon konnte eine Halbtagsstelle in der Palette geschaffen und die Anzahl der ausgegebenen Mahlzeiten aufgestockt werden. „Das ist eigentlich ein ungewöhnlicher Schritt“, sagt Nadine Neumann. Förderung aus der Sozialbehörde war jedoch nicht in Aussicht.

Ein Angebot, das die Situation abkühlen könnte, wäre ein Crack-Konsumraum. Geberin dieser Idee ist die Bezirksamtsleiterin Altona, Dr. Stefanie von Berg. Ihr Pressesprecher teilt mit, dass eine Testung in einem „kleinen, geografisch räumlichen Rahmen“ möglich wäre und bereits eruiert werden würde. Einzige Bedingung: Der Konsumraum muss in Verbindung mit „Sozialberatung und medizinischer Beratung“ stehen. Für Sozialarbeiter Florian Pittner ist es in Anbetracht der Situation folgerichtig, über einen Konsumraum nachzudenken. Doch er sieht auch Hürden: „Für die Anwohnenden, die direkt daneben leben, kann es schon mal ungemütlich werden. Sonst sehe ich aber nur Vorteile!“

Ich erzähle Josha von der Idee, frage ihn, was er denkt: „Poah, ne! Bin ich gar nicht für! Obwohl …“ Er überlegt. „Ach, was weiß ich denn schon. Ich habe doch auch absolut keine Ahnung, wie die das hier alles wieder hinkriegen wollen.“

Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG 09/2024 erschienen. 

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