Der Waldrapp war mir bisher fremd. Wie so vieles, was die Ausstellung „In the Heart of Another Country“, die noch bis zum 12 März 2023 in den Deichtorhallen zu sehen ist, mit sich bringt. Ich kenne die Namen von vielen der 61 beteiligten Künstler und Künstlerinnen nicht. Und auch nicht die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die Sharjah Art Foundation Collection im vielleicht konservativsten der Vereinigten Arabischen Emirate eine anspruchsvolle Kunstsammlung aufgebaut hat.
Und ich weiß auch keine Antwort auf die Fragen, die fast jeder kritische Geist mit der Ausstellung verbindet: Wiegt die Skepsis stärker, die in Sharjah ein autoritäres und gegenüber Minderheiten repressives Regime an der Macht sieht, das auf Erdöl-Exploration basiert und mit Kultur Art-Washing betreibt? Oder ist die Sammlung mit ihren vielen kritischen Arbeiten ein Zeichen partieller Öffnung und Selbstreflexion?
Thematisch eint die Exponate, dass sie Erzählungen aus der Diaspora sind. Sie handeln von einem Leben fern der Herkunftsländer im Nahen oder Mittleren Osten, in Afrika oder der Karibik, das die meisten der teilnehmenden Kunstschaffenden führen. Sie künden von Sehnsucht nach Zugehörigkeit und nach der fernen Heimat, setzen sich kritisch mit deren politischen Bedingungen auseinander oder mit der Diskriminierung, die sie in der neuen Umgebung erfahren.
Vom Irakkrieg bis zu den Frauen in Saudi-Arabien
Der erste Ausstellungsraum leistet sich eine optisch krause, inhaltlich aber beziehungsreiche Engführung von archaisch anmutenden (die Mythenfiguren der libanesisch-amerikanischen Bildhauerin Simone Fattal), poppigen (Hassan Sharifs Berg aus bunten Plastikschlappen) und minimalistischen Arbeiten (der Eisenoxid-rote Würfel aus Stahlträgern von Rasheed Araeen). Später klärt sich die Schau, konzentriert sich auf Porträts, die zusammen fast eine Skizze des Beitrags der arabischen Welt zur Kunstgeschichte seit 1960 ergeben. Und immer wieder packt eine individuelle Arbeitsweise: die gehaucht wirkenden Zeichnungen von Wael Shawky, die so sinnlichen wie abstrakten Körperbilder von Huguette Caland oder der weiße Vogel, den Ali Kazim maskenartig und rätselhaft auf dem dunklen Kopf eines Mannes sitzen lässt.
Im dritten und letzten Abschnitt fallen multimediale Arbeiten auf, die deutlich politisch Stellung nehmen: Lawrence Abu Hamdan seziert akustisch Assads Folterregime. Großartig reflektiert Michael Rakowitz den Irakkrieg und seine postkolonialen Implikationen. Sarah Abu Abdallah verweist mit einem rosa angepinselten Autowrack auf die Mobilitätsbeschränkungen für Frauen in Saudi-Arabien. Und mit Spulen goldenem Stacheldrahts markiert Khalil Rabah die verwickelten Verhältnisse im Westjordanland, diesem fruchtbaren Land, das von Absperrungen, territorialen Konflikten und Gewalt zersetzt wird.
Hrair Sarkissian und eine poetische Metapher der Vernichtung und Vertreibung
Am Ende des Parcours dann der Waldrapp. Die Arbeit von Hrair Sarkissian erinnert mit rekonstruierten Skelettteilen und Satellitenbildern von Flugrouten an diese Vögel, die in Syrien als ausgestorben galten, dann aber in der Nähe von Palmyra wiederentdeckt wurden, um von dort endgültig zu verschwinden, als der Islamische Staat den Ort 2015 eroberte und zerstörte. Der in London lebende armenische Syrer skizziert so eine poetische Metapher der Vernichtung und Vertreibung, in der auch der Völkermord an den Armeniern und die Verheerungen des syrischen Bürgerkriegs mitschwingen.
Ein kleines Schaubild gleich um die Ecke überträgt den metaphorischen Gehalt von Sarkissians Installation auf die Lebensgeschichten der meisten Teilnehmenden: Es zeigt mit Pfeilen die Flüge, Flucht- und Migrationslinien der teilnehmenden Künstler und Künstlerinnen, die mit ihren Geschichten zu Experten eines ästhetischen Aufstands gegen Auslöschung, Verschwinden und Vergessen wurden.
Dieser Artikel ist zuerst in der SZENE HAMBURG 02/2023 erschienen.