Mit ihrer minimalistischen Handschrift gilt sie als Ikone des modernen Tanzes: Die 84-jährige Choreografin Lucinda Childs eröffnet das diesjährige Internationale Sommerfestival auf Kampnagel vom 7 bis 25. August und bringt lebendige Tanzgeschichte nach Hamburg. Zugleich stehen die Aufführungen der Amerikanerin für zwei wichtige Merkmale des Festivals: die Ausweitung von Genre-Grenzen und den hohen Anteil an Weltpremieren. Denn Childs und ihre Company präsentieren gleich vier Uraufführungen, die in Zusammenarbeit mit dem Minimal-Music-Pionier Philip Glass, der Avantgarde-Komponistin Hildur Guðnadóttir und dem albanischen Video-Künstler Anri Sala entstanden. Eine Installation von Sala ist außerdem im Kampnagel-Foyer zu sehen, parallel beteiligt er sich zusammen mit Childs an der Gruppenausstellung „Untranquil Now“ in der Kunsthalle.
Internationales Sommerfestival: Der Verrohung des öffentlichen Raums entgegenwirken
Als Fest der zeitgenössischen performativen Künste aus aller Welt bespielt das dreiwöchige Sommerfestival alljährlich Kampnagel und weitere Orte der Stadt. Der Fokus liegt nicht nur auf der Verschränkung von Tanz, Theater, Performance, Musik, Kunst, Theorie und Film, sondern auch auf der Zusammenführung von Pop-Kultur und Avantgarde. Die Themen betreffen die Gegenwart, entsprechend radikal ist oft die künstlerische Sprache. Angesichts der „Verrohung des öffentlichen Raums, wo der Dialog zunehmend dem Ressentiment weicht, also der Delegitimierung und oft auch Dehumanisierung des Gegenübers“, seien Kulturinstitutionen zum Handeln aufgefordert, erklärt András Siebold, der die künstlerische Leitung des Festivals seit 2013 innehat. So stehe im Programm vielfach der Dialog im Zentrum.
Eine Korrespondenz zwischen Tanz, Kunst und Publikum entfaltet sich zum Beispiel im Rahmen eines Performance-Parcours durch die Ausstellungshäuser der Hamburger Kunstmeile, den der Choreograf Saïdo Lehlouh kuratiert. Die Choreografien des Franzosen fußen auf der HipHop-Kultur und weisen in die Zukunft des Tanzes. Dies zeigt auch seine neueste Bühnenarbeit, die sich auf Kampnagel als Beziehungsgeflecht zwischen 20 Tänzern entfaltet; viele Mitglieder dieser Gruppe sind selbst Choreografen und nehmen am Kunstmeilen-Event teil. Ebenfalls aus dem Urban Dance, jedoch angereichert durch Theater, Spoken Word sowie Opern- und Filmelemente, entwickelte der Londoner Choreograf und Tänzer Ivan Michael Blackstock seine Arbeit „Traplord“, die über Schwarze Männlichkeit reflektiert. Feministische Performancekunst hingegen stellt der Bühnenexzess „Get off“ von Katy Baird dar. Die schottische Performerin und Hedonistin erforscht menschliche Abgründe mit britischem Humor.
Noch mehr Theater, Musik und Talks
Um die Schwierigkeit der Identitätsfindung in Zeiten abgründiger Ideologien wie Antisemitismus und Queerfeindlichkeit dreht sich die Inszenierung des ungarischen Theater- und Filmregisseurs Kornél Mundruczó und seiner freien Gruppe Proton Theatre. Vor dem Hintergrund einer rechtsradikalen ungarischen Gegenwart erzählt der Regisseur die Geschichte einer jüdischen Familie in Budapest und thematisiert dabei auf hyperrealistische, schonungslose Weise die Entrechtung des Menschen. Um das Recht auf körperliche Selbstbestimmung indes geht es in dem dreistündigen Stück „A Dirty Faust“, das vom Wiener Volkstheaterensemble Nesterval in einer leer stehenden Schule auf St. Pauli aufgeführt wird.
Zum reichen Programm des Festivals zählen auch Konzerte, beispielsweise von Sampha (in der Elbphilharmonie), der Folk-Sängerin Annahstasia oder dem Agit-Pop-Kollektiv Bonaparte. Auf der Waldbühne im Kunstfreizeitpark Avant-Garten am Osterbekkanal findet eine Konzert- und Gesprächsreihe statt; hier talkt unter anderem die Rapperin und Autorin Dr. Bitch Ray.
Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG 08/2024 erschienen.
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