Gehörlosenverband Hamburg: „Wir haben als gehörlose Menschen wenig Lobby“

Der Gehörlosenverband Hamburg vertritt die Interessen von Gehörlosen, Schwerhörigen und Spätertaubten. Ein Interview mit Marion Bednorz, Geschäftsführerin, und Meike Aldag, erste Vizevorsitzende, über die deutsche Gebärdensprache, die Situation der Gehörlosen und was sich ändern müsste
Meike Aldag (l.), erste Vizevorsitzende vom Gehörlosenverband Hamburg, und Marion Bednorz, Geschäftsführerin vom Gehörlosenverband Hamburg (Die Gebärde von Frau Aldag ist ein „Ja“ und wird mit der „Y-Handform“/dem „Y" aus dem Fingeralphabet gebärdet) (©Johanna Zobel)

SZENE HAMBURG: Marion Bednorz, Meike Aldag, wie viele Gehörlose leben in Hamburg?

Marion Bednorz: Ungefähr 2000 gehörlose Menschen leben in Hamburg.

Für viele ist die Gebärdensprache die einzige Möglichkeit, mit ihrer Umwelt zu kommunizieren. Wie lange dauert es, bis man diese Sprache wirklich beherrscht?

Bednorz: Das ist individuell sehr verschieden und hängt auch davon ab, ob zum Beispiel ein sozialer Kontext zur gehörlosen Gemeinschaft besteht. Gebärdensprache ist eine Fremdsprache. Es braucht, wie bei anderen Sprachen auch, Zeit, sie zu erlernen. Bis sie wirklich tief verinnerlicht ist, benötigt man, je nach Sprachbegabung und Intensität des Spracherwerbs, mindestens drei Jahre.

Meike Aldag: Man lernt die Gebärdensprache oft in der Schule oder im sportlichen Zusammenhang. Für gehörlose Menschen ist es natürlich anders, die wachsen teilweise mit der Gebärdensprache auf.

Bednorz: Es ist auch abhängig davon, wo es die Möglichkeit gibt, die neue Sprache zu lernen: etwa auch nach der Schule.

Sie unterstützen ukrainische Geflüchtete: Wie schwer fällt es den Menschen, die deutsche Gebärdensprache zu lernen?

Bednorz: In Hamburg leben etwa 350 gehörlose Personen aus der Ukraine. Anfangs haben wir einen Sonderfonds beantragt, um sie zu unterrichten. In diesem Kontext haben wir auch spezielle Kurse für deutsche Gebärdensprache angeboten. Wir bieten im Moment immer noch häufig Beratung für ukrainische Geflüchtete. Ich sehe, dass die Lernfortschritte manchmal minimal sind. Das liegt daran, dass hier viele ukrainische Geflüchtete manchmal untereinander bleiben. Dadurch wird die Integration schwieriger. Aber es gibt durchaus einige, die Interesse am Gehörlosensport haben, sich integrieren und Fortschritte machen. Es gibt hier eine Sprachschule, die Sprachschule Heesch, die Integrationskurse anbietet. Dort bekommt man intensiven Gebärdensprachunterricht über einen Zeitraum von neun Monaten. Das Problem ist, es gibt leider nur eine Klasse – und die Warteliste ist lang.

Wichtig ist es, das Mundbild abzulesen

Marion Bednorz

Dialekte gibt es auch in der Gebärdensprache

Gibt es in der Gebärdensprache Dialekte?

Bednorz: Die gibt es. In Norddeutschland wird etwa anders gebärdet als in Süddeutschland. Auch zwischen Ost- und Westdeutschland gibt es Unterschiede. Zum Beispiel bei dem Wort „Wurst“: In Hamburg gebärdet man „Wurst“ so (macht eine von unten nach oben gerichtete bogenförmige Bewegung mit beiden Händen) in Bayern aber so (führt Zeige- und Mittelfinger ans Ohr). Wichtig ist es, das Mundbild abzulesen. Salz und Pfeffer haben etwa die gleiche Gebärde, wenn man ein unsauberes Mundbild hat, kann es also zu Missverständnissen kommen. Es gibt andere Gebärdensprachen, die weniger Mundbild benutzen, in Deutschland aber ist es schon üblich. Trotzdem klappt es mit der Verständigung in Gebärdensprache deutschlandweit gut.

Zu den Personen:

Marion Bednorz ist seit rund zwei Jahren Geschäftsführerin vom Gehörlosenverband Hamburg. Sie ist hochgradig schwerhörig.

Maike Aldag ist seit über drei Jahren erste Vizevorsitzende vom Gehörlosenverband Hamburg. Sie ist gehörlos.

Claudia Petersen war Dolmetscherin für dieses Interview. Sie ist seit über zehn Jahren als Arbeitsassistenz beim Gehörlosenverband Hamburg tätig. Zuvor studierte sie an der Universität Hamburg.

Wie am Beispiel der „Wurst“ zeichnen einige Begriffe auch den jeweiligen Gegenstand ab, richtig?

Bednorz: Das stimmt, ist aber nicht immer so. Bei Begriffen wie „Haus“, „Ball“, „Tisch“, „Auto“ und „Fahrrad“ kann man es optisch von dem eigentlichen Begriff ableiten.

Wie kommuniziert man bei Namen?

Bednorz: Falls es für einen Begriff noch keine Gebärde gibt, kann man dafür das Fingeralphabet verwenden.

Aldag: Das Fingeralphabet ist oft eine gute Unterstützung, um den Gesamtkontext zu vervollständigen.

In der Lautsprache ist Gendern ein großes Thema. Wie ist das bei der Gebärdensprache?

Bednorz: Ein Teil der Jugend beschäftigt sich ebenfalls mit Gender-Themen, das ist unter Gehörlosen nicht anders als bei Hörenden.

Inwiefern?

Bednorz: Die Gebärde zu Gendern ist neu, genauso wie non-binär, queer, Diversität. Es gibt schon neue Gebärden, die sich in den letzten Jahren entwickelt haben.

Welche sprachlichen Unterschiede gibt es bei der jüngeren und älteren Generation?

Bednorz: In der Gebärdensprache gibt es zum Beispiel die Sie- oder Du-Form nicht. Es wird immer auf die jeweilige Person gezeigt. Sprachwandel gibt es natürlich auch in den Gebärdensprachen. Es gibt bestimmte Gebärden-Idiome, Paraphrasen oder Redewendungen, die man früher benutzt hat und die heute nicht mehr aktuell sind. Wie in den Lautsprachen auch.

Kommunikation als Herausforderung

Ein Poster von „Talking Hands“ zeigt Emotionen in Gebärden (©Talking Hands)

Wie klappt die Verständigung zu Hörenden im Alltag?

Aldag: In meinem Alltag ist es schon eine Herausforderung. Ich stoße immer wieder auf Barrieren. Beispielsweise beim Autokauf oder bei der Kommunikation mit einem Rechtsanwalt. Die juristische Sprache ist sowieso eine Herausforderung. Für jedes Gespräch brauche ich Dolmetscher, egal ob ich mir ein Haus oder ein Auto kaufen möchte. Die Leute reden oft so schnell, dass ich die Lippen nicht ablesen kann. Da bekomme ich nur ganz, ganz wenig mit. Das ist schon schwierig. Dolmetscher werden leider auch nicht finanziert.

Warum nicht?

Bednorz: Man kann beim Fachamt für Eingliederungshilfe schon eine Kostenübernahme für das Dolmetsch-Budget im privaten Bereich beantragen, aber die bürokratischen Hürden sind hoch. Die fragen nach dem Vermögen, ob man ein Haus hat, wie viel Einkommen man erzielt und so weiter. Wir müssen alles offenlegen. Das empfinden wir als sehr, sehr diskriminierend. Hinzu kommt, dass das Amt bei einem Antrag bis zu neun oder zehn Monate braucht, bis eine Entscheidung oder Bewilligung da ist. Die Behörde ist völlig überlastet.

Sind das auch Themen, die Sie versuchen, voranzubringen und zu verbessern?

Bednorz: Wenn ich einer Partei beitreten möchte, kann ich mich gar nicht engagieren, weil kein Dolmetscher da ist. Wie soll das gehen? Einige Gehörlose, die sich politisch engagiert haben, sind am Austausch gescheitert und wieder ausgetreten. Wir haben als gehörlose Menschen daher wenig Lobby.

Früher habe ich nichts mitbekommen. Jetzt ist es besser mit den Kollegen.

Marion Bednorz

Lernen gehörlose Kinder direkt die Gebärdensprache?

Bednorz: Wenn ein Kind taub ist oder eine Hörbehinderung vorliegt, dann geht man erst mal zum HNO-Arzt. Der diagnostiziert den Hörstatus. In westlichen Ländern ist es häufig so, dass Kinder mit einem Cochlea-Implantat (CI) versorgt werden. Dann hofft man, dass die Kinder lautsprachlich erzogen werden. Was viele vergessen, ist, dass Kinder trotz des CI eine Hörbehinderung haben. Diesen Umstand verdrängen Eltern häufig. Ungefähr 90 Prozent dieser Kinder haben ein hörendes Familienumfeld. Die Spannbreite beim Hörstatus ist sehr groß: von leicht, mittel, hochgradig schwerhörig bis taub.

Aldag: Es gibt heute leider wenig Angebote, um Gebärdensprache überhaupt zu lernen. Es wäre gut, wenn es Alternativen gäbe und nicht nur der Arzt entscheidet, in welcher Sprache das Kind erzogen werden soll.

Bednorz: Das Entscheidende ist, dass eine neutrale Beratungsstelle fehlt. Die Eltern suchen erst mal den Arzt auf. Der konzentriert sich aber nur auf eine Richtung und kennt die Alternativen vielleicht nicht. Wenn Eltern dann Interesse haben, dass sie oder das Kind Gebärdensprache lernen, wird die Kostenübernahme bei der Krankenkasse häufig abgelehnt.

Gebärdensprache ermöglicht vieles

Welche Vorteile hat es, die Gebärdensprache zu lernen?

Bednorz: Wenn Eltern die Gebärdensprache lernen, können sie eine ganz andere Beziehung zum Kind aufbauen. Die Kinder merken, dass sie anders sind als andere Kinder. Wenn sich die Eltern auf das Kind einstellen, würde sich das Kind akzeptiert und angenommen fühlen und kann ein besseres Selbstbewusstsein aufbauen.

Aldag: Manchmal vollziehen Kinder in der Pubertät einen großen Wandel. Sie merken, dass sie sich nicht mehr mit dem CI identifizieren – und der damit verbundenen Anstrengung, ständig die Lautsprache zu benutzen. Dann kommt oft der Wunsch, Gebärdensprache zu erlernen. Das kann zu Identitätskonflikten führen.

Wie ist der Umgang mit hörenden Menschen im Beruf?

Aldag: Ich arbeite seit 33 Jahren in einer Firma mit hörenden Menschen. Heute kann ich für ein Teamgespräch einen Dolmetscher beauftragen. Damals war das nicht so. Das begann vor etwa 20 Jahren. Es war ein Prozess. Früher habe ich nichts mitbekommen. Jetzt ist es besser mit den Kollegen. Es fühlt sich fairer an. Ich benutze ein bisschen die Stimme und versuche, mich mit ein paar Kollegen lautsprachlich auszutauschen, das läuft ganz gut.

Wie ist Ihr Arbeitsweg? Ist Hamburg für Sie im Straßenverkehr sicher?

Bednorz: Die Frage wird von Hörenden oft gestellt. Wir sind eher visuell orientiert und schauen uns ständig um. Selbst wenn wir im Auto sitzen und fahren, sehen wir, dass da etwa ein Krankenwagen kommt.

Aldag: Mir ist aufgefallen, dass ich als gehörlose Person sogar eher mitbekomme, wenn ein Krankenwagen oder die Polizei kommt, als Hörende. (lacht)

In Hamburg herrscht massive Dolmetscher-Knappheit

Was wäre, wenn Ihnen oder anderen etwas passiert: Wie setzen Sie eigentlich einen Notruf ab?

Aldag: Es gibt eine spezielle App für Notrufe – für Polizei und Rettungsdienst. Das ist relativ neu. Die Polizei kann ich über Gebärden anrufen, bei der anderen App (Nora, Anm. d. Red.) muss ich es schriftlich machen. Es gibt aber auch einen Dolmetscher-Dienst, der heißt Tess. Da kann ich direkt mit denen gebärden.

Bednorz: Tess ist ein Relay-Center mit Sitz in Rendsburg. Gehörlose können dort über Video anrufen. Etwa zum Pizza bestellen, dann rufen die Dolmetscher beim Pizza-Lieferservice an. Für Notfälle gibt es darüber hinaus Notrufknöpfe, um einen Krankenwagen zu bestellen. Aber im Krankenhaus kommt der Arzt dann auf einen zu und spricht mit einem. Da hilft einem dann auch keine App weiter. Wir haben in Hamburg keine Dolmetscher im Bereitschaftsdienst. Das ist deutschlandweit eine große Lücke. Wir versuchen mit der Sozialbehörde Kontakt aufzunehmen, auch mit Senatorin Melanie Schlotzhauer. Leider wurde bisher wenig Interesse gezeigt. Auch mit dem Innensenat und der Polizei haben wir versucht, das Thema zu besprechen. Bis heute blocken aber leider alle ab. Wir kommen da im Moment nicht voran. Wenn es um Geld geht, fallen schnell die Schranken. Aber wir haben ein Recht auf barrierefreie Kommunikation.

Das klingt für eine Großstadt nicht gerade schmeichelhaft …

Bednorz: Ja, ich dachte auch, hier regieren SPD und Grüne, da kommen wir ein bisschen vorwärts. Aber die Praxis ist leider, dass uns Grenzen und Barrieren aufgezeigt werden. Wir haben selbst in Hamburg eine massive Dolmetscher-Knappheit, auch wenn wir etwa 180 bis 200 Dolmetscher hier vor Ort haben. Trotzdem gibt es immer wieder Probleme, welche zu bekommen. Manchmal müssen wir zwei bis drei Wochen im Voraus Termine buchen. Spontan klappt es in der Regel gar nicht. Ich musste politische Treffen teilweise absagen, weil sich kein Dolmetscher gefunden hat.

Wenn es dann doch mal mit einem Termin klappt: Fällt es schwer, einem fremden Menschen – den Dolmetschern – zu vertrauen, dass die Info richtig ankommt?

Bednorz: Ja, absolut. Ich habe im Prinzip keine Kontrolle darüber, was der Dolmetscher voiced. Das ist schon ein Problem. Wenn ein Dolmetscher falsch übersetzt, bekomme ich das eventuell nicht mit. Manchmal merke ich, dass der Gesprächsverlauf ein bisschen komisch ist. Dann habe ich das Gefühl, dass da etwas schiefgelaufen sein könnte. Die Qualität der Dolmetscher ist extrem unterschiedlich.

Mehr Informationen:

Über den Gehörlosenverband

Der Gehörlosenverband Hamburg vertritt die Interessen von Gehörlosen, Schwerhörigen und Spätertaubten. Der Verband setzt sich unter anderem für den Ausbau der Dolmetscherdienste, die Beratung von Eltern gehörloser Kinder und den Einsatz der Deutschen Gebärdensprache in Familie, Frühförderung, Schule und Beruf ein. Darüber hinaus gibt es kulturelle Angebote.

Über die Illustration

Die Illustration stammt von Talking Hands. Das Start-up wurde im Jahr 2020 von Laura Mohn und Maria Möller gegründet. Ihr Ziel: einen Beitrag zur inklusiven und verständnisvollen Gesellschaft leisten. Talking Hands hat ein ganzes Portfolio an verschiedenen Gebärden-Daumenkinos. Die Produkte sind nicht speziell für Kinder mit Behinderung gedacht, sondern vielmehr als Lernmaterial und Bereicherung für alle Kinder zu betrachten.

Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG 05/2024 erschienen.

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