Ein estnische Regieduo interpretiert „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ für das Thalias Theater
Peter Handke ist immer für Überraschungen gut. 1992 schuf der sprachmächtige österreichische Dichter ein Schauspiel für eine große Besetzung – und ohne Worte. Die Hauptrolle spielt ein Platz, Metapher für die antike Agora, jenen zentralen Ort, an dem alles Gesellschaftliche verhandelt wird. Und in dieser Welt im Kleinen spielt sich alles ab. Die kleinen Tragödien, die großen Gefühle, sogar Weltreligionen. Der Rest ist Regieanweisung.
Das estnische Regieduo Tiit Ojasoo und Ene Liis Semper hat sich für das Thalia Theater über „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ hergemacht. Das Ergebnis ist eine Meisterleistung der Gewerke. 20 Schauspieler, verstärkt um 13 asiatische Tänzer, verausgaben sich körperlich und mimisch. In grauen Trenchcoats hetzen sie von links nach rechts, rempeln einander an, joggen, radeln, küssen, heulen.
Birte Schnöink fällt als junge Büroangestellte mit Aktenkoffer und 54 Coffee to go gleich mehrfach gekonnt über die Diagonale. Sebastian Rudolph verrenkt sich als Angestellter mit Schreikrampf, und Karin Neuhäuser verheddert sich als Wiedergängerin Marilyn Monroes in einem Heer von Luftballons.
Das ergibt über weite Strecken einen Bilderreigen, der manchmal originell, manchmal ein bisschen zu vorhersehbar daherkommt, etwa wenn zwei Postboten einander in Zeitlupe begegnen. Handwerklich ist die Inszenierung exakt. Die Bilder harmonieren mit dem Rhythmus Lars Wittershagens wie immer berückender Elektromusik und dem Gesang eines 20-köpfigen, im Zuschauerraum verteilten Chores.
Mit dem fortschreitenden Abend werden die Bilder stärker, installativer, auch politischer. Mit Assoziationen an Flucht, biblische Motive, Juden an der Klagemauer und verhüllte Muslimas. In einem starken Finale lässt das Regieduo die nunmehr unbekleideten Darsteller durch einen Lichtspalt dem Ende zustreben, bevor diesmal chinesische Angestellte beginnen, über die Bühne zu hetzen. Eine Zeitenwende bricht an. Schön anzuschauen.
Text: Annette Stiekele
Foto: Armin Smailovic
Thalia Theater
Raboisen 67 (Neustadt)
Vorstellungen am 21., 26. und 29. Juni