Der erste Sonntag im September ist der europäische Tag der jüdischen Kultur. Dazu erzählen zwei Hamburger Jüdinnen von ihrem Leben in der Hansestadt
Tamara Loewenstein: „Ich bin als säkulare Jüdin in San Francisco, Kalifornien, geboren und aufgewachsen, also in einer Stadt mit vielen jüdischen Menschen. Als kleines Kind dachte ich sogar, dass die meisten Menschen jüdisch waren, weil ich von so vielen Jüdinnen und Juden umgeben war. Das ist natürlich nicht die Erfahrung, die jede:r macht, vor allem nicht in Deutschland oder Europa. Meine Eltern sind beide jüdisch und haben ihre eigenen Familiengeschichten, die Flucht vor dem Nationalsozialismus in Europa geprägt sind. Sie haben sich bewusst dazu entschieden, mich mit einem festen jüdischen Background großzuziehen und mein Jüdischsein zu fördern. Mein Jüdischsein war also immer sehr präsent in meinem Leben. Es ist aber wichtig, besonders in Deutschland, die Unterscheidung zwischen jüdischer Religion und jüdischer Kultur zu betonen. Unser Judentum war und ist für mich immer noch kulturell.
Die deutsche Obsession mit der jüdischen Vergangenheit
Obwohl es immer mein Traum war, in Berlin zu leben, bin ich in Hamburg gelandet, wo ich eine Reihe junger, kreativer jüdischer Menschen kennengelernt habe. Dennoch fühle ich mich hier als Jüdin isoliert, weil mir die jüdische Erfahrung fehlt, die ich in den USA hatte. Aber ich kenne mehrere Jüd:innen in Berlin, die sich auch sehr isoliert fühlen. Das ist heftig, da wir uns alle Berlin als das „jüdische Mekka“ Deutschlands vorstellen. In Deutschland war Jüdischsein plötzlich eine seltsame Seltenheit, die mit einer ungewöhnlichen Neugier und Philosemitismus konfrontiert wurde. Ich merkte, wie sich in mir langsam Wut, Frustration und Unzufriedenheit mit dem Status quo des jüdischen Lebens hier ansammelten. Ich konnte die ständige Besessenheit und Konzentration auf die Vergangenheit und den jüdischen Tod und das jüdische Leiden nicht länger ertragen. Das Jubiläum zu „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ fühlte sich an wie eine weitere Fokussierung auf die Vergangenheit und eine gespielte Versöhnung – und ich konnte keine Repräsentation von Stimmen wie meiner erkennen: queer, links, politisch, kritisch, laut. Das war ein Wendepunkt für mich.
Am Ende kann das Jüdischsein für jede:n Jüd:in eine Million verschiedene Bedeutungen haben. Und das ist auch sehr jüdisch
Tamara Loewenstein
So beschloss ich, 2021 mein Projekt „Queer Jewish Futures“ (QJF) zu gründen, um eine Plattform zu schaffen, die ich dringend für mich brauchte. In Interviews mit queeren, jüdischen Künstler:innen, Autor:innen und Aktivist:innen zielt das Projekt darauf ab, jüdische Erfahrung durch Selbstbestimmung und Empowerment in den Fokus zu rücken. Nach der Gründung von QJF habe ich viel über das Konzept des jüdischen Futurismus reflektiert und arbeite immer noch daran. Es ist ein Mittel, um sich gegen die Leitkultur und ein Land zu wehren, das mehr an der Holocaust-Erinnerungskultur interessiert ist als an echten, lebenden jüdischen Menschen. Meine Botschaft an Deutschland lautet: Lasst uns für uns selbst sprechen. Hört auf, uns unsere Geschichten zu erzählen. Hört auf, uns zu zensieren.
Es gibt keine einheitliche jüdische Community
Eine genaue Repräsentation der vielfältigen jüdischen Stimmen und Erfahrungen fehlt in Deutschland einfach komplett – und das ist ein riesiges Problem. Jüdische Repräsentation ist hier eng mit bestimmten Gruppen verbunden, die Macht haben, und mit der Vorstellung „der Deutschen“, wer „die Juden“ sind. Der Zentralrat der Juden in Deutschland ist weiterhin DIE Vertretung aller Jüd:innen in Deutschland. Aber das stimmt einfach nicht! Es gibt keine einheitliche jüdische Community. Im Post-Holocaust-Deutschland müssen sich Jüd:innen mit einem zutiefst schädlichen deutschen Blick arrangieren, der für uns entscheidet, wer Jüd:in ist – und wer nicht.
Wir brauchen viel mehr Sichtbarkeit und Möglichkeiten für diejenigen, die nicht in bestimmte „Kategorien“ passen. Es gibt viele Jüd:innen, die nicht bei einer Gemeinde eingetragen sind, einschließlich ich selbst. Oder säkulare Jüd:innen, patrilineale Jüd:innen, queere Jüd:innen, Jüd:innen, die der israelischen Regierung kritisch gegenüberstehen, Jüd:innen, die sich für die palästinensische Befreiung einsetzen, Schwarze oder POC-Jüd:innen, Jüd:innen mit Behinderungen und viele mehr. Für den Umgang mit Aschkenormativität ist es wesentlich, dass wir mizrachische und sephardische Jüd:innen, Schwarze Jüd:innen, und POC-Jüd:innen in den Vordergrund stellen.
Queer und jüdisch? Fabulous!
Am Ende kann das Jüdischsein für jede:n Jüd:in eine Million verschiedene Bedeutungen haben. Und das ist auch sehr jüdisch. Für mich als weiße, queere, amerikanische, aschkenasische Jüdin heißt es, zu einer Gruppe von Menschen zu gehören, die eine Geschichte, Traditionen, diasporische Erfahrungen, Humor und eine Ansicht teilen. Eine bestimmte Perspektive, die mitunter schwer zu beschreiben ist – manchmal ist es einfach das Verstehen untereinander, das keine Worte braucht. Ob es möglich ist, eine jüdische und eine queere Identität zu vereinen? Absolut! Hier bin ich – und wir sind viele. Queerness und mein Jüdischsein sind zwei der besten Teile meiner Identität und sehr eng miteinander verflochten. Ich hatte das Glück, schon in jungen Jahren Vorbilder zu haben, die mir sagten: Es ist nicht nur okay, queer und jüdisch zu sein, es ist fabulous!“
„Das Judentum hat mich jahrelang nicht mehr losgelassen“
Caro-Laila N.: „Ich bin in Hamburg-St. Georg aufgewachsen, meine Familie kommt aber aus dem süddeutschen und Schweizer Raum. Auch meine Oma mütterlicherseits – die mütterliche Seite ist ja der wichtige Teil im Judentum, weil die jüdische Identität darüber vererbt wird. Ich bin säkular groß geworden, meine Mutter ist nicht religiös. Die berühmte Identitätskrise fing eher an, als ich ein bisschen älter wurde. Familiengeschichte ist bei vielen Menschen mit jüdischem Hintergrund ein schwieriges Thema, weil sie oft sehr tragisch ist. Auch bei uns wird nicht über alles gesprochen, es gibt gut gehütete Familiengeheimnisse.
Das Judentum hat mich jahrelang nicht mehr losgelassen, ich habe viel darüber gelesen. Während Corona habe ich dann meinen Mut zusammengenommen und eine Rabbinatsstudentin aus Berlin angeschrieben, der ich schon auf Instagram folgte. Anscheinend haben sich mehrere Menschen bei ihr gemeldet, sodass schnell eine Gruppe entstand. In dieser Gruppe habe ich die verschiedensten Leute aus allen möglichen Städten kennengelernt, wir tauschen uns aus, unterstützen uns und besuchen uns gegenseitig. Daraus sind sehr feste Freundschaften geworden, obwohl wir uns nicht seit Jahren kennen und täglich sehen. Das klingt vielleicht ein bisschen sektenmäßig, aber uns alle verbindet eben eine gemeinsame Sache.
Die deutsche Angst vor einem Wort
„Wie kannst du denn Jüdin sein? Du bist doch arm.“ Solche Sprüche durfte ich mir schon häufig anhören. Menschen finden das witzig, dabei ist das ein tief verankerter Antisemitismus in der Gesellschaft. Ich trage meinen Davidstern zwar immer um den Hals, aber ich trage ihn nie öffentlich außer zu Hause oder wenn ich mit bestimmten Freund:innen zusammen bin. Sobald er mal draußen hängt, gucken die Leute und sind irritiert. Ich merke auch, dass viele Menschen in Deutschland Angst haben, das Wort „Juden“ in den Mund zu nehmen. Es ist vielleicht ganz tief und leider noch immer durch diese Zeit der Shoa verankert, dass es für sie irgendwie was Negatives bedeutet.
Es gibt kein vorgeschriebenes Judentum – das ist das Wichtigste, was die Gesellschaft lernen muss
Caro-Laila N.
Man hat immer so eine Ehrfurcht vor mir, wenn ich sage, dass ich Jüdin bin. Wie doll mich das emotional belastet, ist bei mir tagesabhängig. Besonders in Amerika oder auch in anderen europäischen Städten gibt es deutlich mehr jüdisches Leben. Deutschland hat geschichtlich leider sehr dazu beigetragen, dass es hier bis heute nicht mehr wirklich stattfindet. Und gerade die junge jüdische Community kämpft sehr dafür, wieder sichtbar zu sein. Wir werden eigentlich immer mit der Shoa in Verbindung gesetzt – und das sind tote Jüdinnen und Juden. Aber wir sind lebendig und wollen nicht immer nur auf das eine begrenzt werden.
Die jüdische Parallelwelt
Ich genieße es sehr, dass ich immer in meine jüdische Parallelwelt ausweichen kann. Seit September 2022 habe angefangen, Hebräisch zu lernen und bin in einer liberalen Gemeinde in Hannover, der größten liberalen Gemeinde in Deutschland. Entschieden habe ich mich für sie, weil sie sehr jung, alternativ und divers ist. Ich habe dort viele Freundschaften geschlossen. Man muss sich die Gemeinde suchen, die am besten zu einem passt – wie ein gut sitzendes Paar Schuhe.
Nur weil ich Hamburgerin bin, muss ich nicht hier in einer Gemeinde sein. Mit Freund:innen in Hamburg mache ich dafür freitags häufig abwechselnd häuslichen Schabbat, ohne in die Synagoge zu gehen. Jüdisches Leben ist für mich divers. Ich mag diese Mischung aus sehr traditionell und trotzdem modern. Man muss natürlich den Respekt vor den Grenzen der anderen wahren, aber jede:r kann es so leben, wie er oder sie es möchte. Es gibt ein Grundgerüst an Fest- und Feiertagen, aber die feiere ich, wie ich mich dabei wohlfühle. Es gibt kein vorgeschriebenes stereotypisches Judentum – das ist das Wichtigste, was die Gesellschaft lernen muss.
Jewicy Couture: Clash zwischen Tradition und Moderne
Diese ganzen jüdischen Symboliken wie Schabbat-Deckchen oder Kiddusch-Becher sind allerdings sehr stereotypisch. Natürlich gibt es schöne Sachen, aber die Gegenstände sind immer sehr standardisiert oder altbacken. Es sieht alles ähnlich aus, da ist keine Diversität und Moderne mit dabei. Ich mag mein herkömmliches Schabbat-Deckchen, aber es ist keine persönliche Geschichte dahinter. Ich habe dann irgendwann angefangen, mir die Sachen selber so zu machen, wie sie mir wirklich gefallen, und dabei gemerkt, dass das viel mehr Nähe hat.
Meinen Freund:innen habe ich dann aus Spaß auch welche gemacht. Und so ist die Idee zu meinem Instagram-Account „Jewicy Couture“ entstanden. Ich möchte nicht, dass mir irgendjemand vorschreibt, wie etwas auszusehen hat. Warum kann ein Kiddusch-Becher nicht einfach selbst getöpfert sein oder eine andere Form haben? Ich möchte diesen Clash zwischen Tradition und Moderne, über den sich die Leute ruhig ein bisschen aufregen können. Und ich möchte eben, dass das Judentum seinen Platz findet im Alltag und genau deswegen soll „Jewicy“ nicht nur für jüdische Menschen sein. Ich hoffe, dass es eine Plattform werden wird, über die Leute der Kunst im Judentum ein bisschen näherkommen können.“
Dieser Artikel ist zuerst in der SZENE HAMBURG „Divers(c)ity“ 2023 erschienen.