Katrin Seddig: „Ich schreibe schnell und viel“

Die Hamburger Schriftstellerin Katrin Seddig hat mit „Nadine“ unlängst einen neuen Roman vorgelegt. Darin wirft sie einen schonungslosen Blick auf die Welt
„Habe selbst Wut in mir“: Katrin Seddig (©Bruno Seddig)
„Habe selbst Wut in mir“: Katrin Seddig (©Bruno Seddig)

SZENE HAMBURG: Katrin Seddig, Sie beschäftigen sich schriftstellerisch stets mit Themen, die Sie stark beschäftigen. Was war das bei Ihrem Roman „Nadine“?

Katrin Seddig: Feministische Themen, und zwar sowohl aus privatem, als auch aus gesellschaftlichem Anlass. Als meine Kinder auszogen, befand ich mich plötzlich in einer Situation, in der ich mich neu definieren musste. Das hat auch dazu geführt, dass ich meine Vergangenheit neu reflektiert habe. Und aktuell bekommt die „ältere“ Frau größere gesellschaftliche Beachtung. Das ist aber nicht einfach so passiert, sondern weil sie selbst mehr auf sich aufmerksam macht, in verschiedenen Medien. Das hat mich sehr interessiert. Ich habe selbst einen Text zu diesem Thema für eine Anthologie beigesteuert, nämlich „Wechselhafte Jahre – Schriftstellerinnen übers Älterwerden“ von Bettina Balàka.

Die Protagonistin Ihres Buches ist die titelgebende Nadine, die mit dem Selbstmord ihrer Tochter umgehen muss. Wie haben Sie sich diesem sehr schmerzvollen Thema angenähert?

Zum einen gehören Verlusterfahrungen zum Muttersein dazu. Jeder Schritt in die Selbstständigkeit der Kinder ist ein Abschied. Es ist die größte Angst, dass dem Kind etwas passieren könnte. Das ist eigentlich immer präsent, wenn auch nicht vordergründig. Zum anderen habe ich mit jemandem gesprochen.

Recht weit am Ende des Buches steht an einer Stelle: „Großzügig bis zum Kotzen ist man mit dem eigenen Kind. Erst recht, wenn es tot ist.“ Das ist so hart, vermutlich auch so wahr und so heftig, dass man schlucken muss. Denken Sie über solche Passagen lange nach oder kommen die einfach aus Ihnen heraus?

Ich sitze nicht da und überlege mir einen passenden Satz, bevor ich ihn niederschreibe. Das ist nicht meine Art, das würde für mich nicht funktionieren. Ich schreibe schnell und viel. Später streiche ich dann die Hälfte.

„Ich habe selbst Wut in mir“

Der rote Faden des Romans, wenn man so will, ist aber weniger die Trauer, sondern die Wut – die natürlich eng mit der Trauer verwandt ist. Fanden Sie es schwierig, ein so starkes und impulsives Gefühl zu verschriftlichen?

Die Sache ist ja die: Nicht ich bin es, die diese Wut empfindet, sondern Nadine – und die ist anders als ich. Ich konnte also nicht ausschließlich auf mein eigenes Fühlen, mein eigenes Verhalten, als Erfahrung zurückgreifen, sondern musste mir Nadines Wesen verinnerlichen. Das hat es schwer gemacht. Aber ich habe selbst Wut in mir, das hat es zumindest einfacher gemacht. Und es gibt schon auch eine gewisse Verwandtschaft zwischen Nadine und mir.

Wie sieht diese Verwandtschaft konkret aus?

Ähnlich wie Nadine habe ich in meiner Kindheit Schwierigkeiten gehabt, mich richtig zu verhalten. Richtig im Sinne von unauffällig, so wie die anderen. Auch heute ist es noch so, dass ich oft nicht zuhöre, ich rede zu viel und zu laut, ich merke das gar nicht, aber es wird mir vorgeworfen. Als Kind hatte ich einige sehr merkwürdige Ticks und war sehr zappelig, ich wurde oft ermahnt. Aber, anders als Nadine, war ich äußerlich unauffällig und nicht isoliert, ich hatte immer eine Freundin und war nicht so bedürftig wie sie.

„Meine Heimat in der literarischen Szene bedeutet mir viel“

Karin Seddigs Roman „Nadine“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen (©Rowohlt Berlin)
Karin Seddigs Roman „Nadine“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen (©Rowohlt Berlin)

Gerade wenn, wie im Falle von Nadine, ein so starkes Gefühl wie Wut vorherrscht: Wie ist es Ihnen gelungen, trotzdem noch weitere Facetten und Charakteristika in der Figur unterzubringen, ohne dass diese von der Wut überrollt wurden?

Es gibt recht viele Rückblicke im Buch, in denen Nadines Leben erzählt wird, das ja nicht nur aus Wutsituationen bestand. Und dann hat ein Drama auch immer seine komischen Seiten. Anhand genau erzählter, alltäglicher, scheinbar banaler Passagen, in denen sich aber das Wesentliche zeigt, kann man eine Figur gut charakterisieren. Besonders auch im Dialog.

Sie leben nun schon eine ganze Weile in Hamburg. Welchen Einfluss hat die Stadt auf Sie und insbesondere auf Ihren literarischen Output?

Ich komme ja aus einem sehr kleinen Dorf, aber ich wusste immer, dass ich in der Stadt leben will, obwohl ich die Natur da liebe. Aber es war mir einfach zu wenig, ich fühlte mich zu weit weg von allem, was ich interessant fand. Die Impulse, die eine Stadt wie Hamburg gibt, sind für mein Schreiben sehr wichtig. Ich treffe mit einer viel größeren Vielfalt an Menschen zusammen. Ich weiß nicht, ob eine andere große Stadt spezifisch anders auf mich einwirken würde. Aber jetzt bin ich hier zu Hause und interessiere mich für das, was hier passiert. Meine Heimat in der literarischen Szene bedeutet mir viel. Als Autorin hat man ja sonst keine Arbeitskolleg:innen. Es ist sehr wichtig, sich zu kennen und regelmäßig zu treffen.

Optimistisch bleiben strengt an

Ihr erstes Buch hieß „Von der Anstrengung des Lebens“ und erschien 2010 – also vor 13 Jahren. Sind Ihre heutigen Anstrengungen des Lebens andere als damals?

Das war nur ein sehr, sehr kleines Buch, eigentlich ist es nur eine Erzählung, ein „Literaturquickie“. Mein Leben ist in einigen Hinsichten leichter geworden, ich habe keine Kinder mehr zu versorgen, ich muss nicht mehr neben dem Schreiben einem Brotjob nachgehen. Als Teil der Gesellschaft strengt es mich an, optimistisch zu bleiben. Aber ich gebe mir Mühe. Ich denke, wir sind dazu verpflichtet, um handlungsfähig zu bleiben.

Kommt es manchmal vor, wenn Sie beispielsweise Rezensionen über Ihre Bücher lesen oder mit anderen Menschen darüber sprechen, dass Sie neue Dinge an und in Ihren Romanen entdecken, die Ihnen nicht bewusst waren?

Ich bin Teil einer Gruppe, in der wir gegenseitig über unsere Texte sprechen. Das ist sehr wichtig für mich. Manchmal kann ich Bezüge entdecken, die mir nicht bewusst waren. Die vielschichtige Bearbeitung eines Themas zum Beispiel, dann taucht da plötzlich eine weitere Schicht auf. Oder Textstellen, die kooperieren, ohne dass mir das bewusst war. Wenn man sehr mit einem Thema beschäftigt ist, dann passiert so etwas manchmal ganz unbewusst. Das ist wirklich sehr interessant. Also: ja.

Gar keine Kritiken, das ist das Schlimmste

Kommt es manchmal vor, dass Sie sich beim Schreiben selbst neu entdecken, weil Sie sich vielleicht mit Themen auseinandersetzen, mit denen Sie sich vorher noch nie beschäftigt haben?

Ich frage mich immer, wie ich selbst zu den Dingen stehe, über die ich schreibe, das geht ja gar nicht anders. Interessant ist das nur, wenn man ehrlich ist, wenn man also in tief in sich hinabsteigt. Da findet man die dollsten Neigungen und Interessen, Bereitschaften, Abneigungen, Dinge, denen man vielleicht nie nachgehen würde, weil bestimmte Korrektive oder widerstreitende Interessen, wie Anstand und Moral, Verantwortungsbewusstsein oder auch nur Faulheit, einen daran hindern, zum Glück, vielleicht. Aber schreibend kann man eine Menge davon ausleben. Als Schriftstellerin ist es nützlich, sich auszuloten, stets aufs Neue, also bei jedem neuen Thema.

Sie haben für Ihre Schriftstellerei schon diverse Preise erhalten, darunter den Hamburger Literaturpreis und den Hubert-Fichte-Preis. Welche Bedeutung haben derlei Auszeichnungen für Sie?

Im freiberuflichen, künstlerischen Bereich arbeitet man die meiste Zeit allein vor sich hin und hofft, dass das, was man tut, gut ist. Es gibt keine täglichen Rückmeldungen, oder auch nur wöchentlichen oder monatlichen. Wenn das Buch erscheint, verkauft es sich gut oder nicht. Das ist eine Art von Erfolg oder Misserfolg. Dann gibt es gute Kritiken, schlechte Kritiken oder gar keine – was das Schlimmste ist – und darüber hinaus gibt es Preise. Es ist sehr gut, wenn irgendwas davon einen erreicht. Natürlich geht es auch um das Geld, aber wichtiger ist die Anerkennung, dass irgendjemand glaubt, dass das, was man tut, eine Qualität hat.

Arbeiten Sie bereits an einem neuen Buch? Können Sie schon etwas darüber verraten?

Ich arbeite an einem Roman über eine pensionierte Lehrerin, die sich mit einem jungen Mann konfrontiert sieht, mit dem sie in eine existenziell bedrohliche Ausnahmesituation gerät.

Katrin Seddig: Nadine, Rowohlt Berlin, 304 Seiten, 24 Euro Am 12. Mai um 19 Uhr liest Sedding im Kleinen Michel aus „Nadine“

Dieser Artikel ist zuerst in der SZENE HAMBURG 05/2023 erschienen.

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