Die Donnerstraße im schicken Ottensen, das Straßenschild umgeben von Altbaufassaden. Darunter das Hinweisschild: „Familie D. (18. bis 20. Jh.) – Förderer gemeinnütziger Einrichtungen“. Das klingt erst einmal gut. Nach einer Familie, die sich um das Gemeinwohl verdient gemacht hat. Und in der Tat: Die wohlhabende Kaufmannsfamilie um Conrad Hinrich Donner (1774–1854) ging großzügig mit ihrem Vermögen um und unterstützte unter anderem die Altonaer Sonntagsschule zur fachlichen Weiterbildung von Handwerkern und Künstlern, ließ für das Kirchspiel Othmarschen die Christuskirche errichten und das Erholungsheim in Döse an der Nordsee erbauen und anschließend dem Altonaer Kinderhospital übereignen. Was nicht auf dem Schild steht: Die Familie erwirtschaftete ihren Reichtum zum Teil mit fragwürdigen Mitteln. Die Firma C.H. Donner handelte intensiv mit Waren wie Tabak, Zucker und Kaffee, die unter Ausbeutung der einheimischen Bevölkerungen aus fernen Ländern nach Hamburg gebracht wurden. 1899 gründete Conrad Hinrich Donners gleichnamiger Enkel in La Paz die Vereinigung zur Ausbeutung der Gummivorkommen in Bolivien.
So waren damals eben die Verhältnisse und kein Mensch ist moralisch vollkommen, wendet so mancher ein. Deswegen die Straßennamen zu ändern, sei der überzogene Versuch, die Geschichte moralisch zu reinigen, sagen Kritiker. Die immer noch stattfindende Reduzierung kolonialer Eroberer und Ausbeuter auf ihre positiven Seiten sei eine nostalgische Verklärung der Kolonialzeit, wenden Postkolonialismus-Forscher ein. So viel ist sicher: Deutschlands Rolle in der Kolonialzeit fand in der Vergangenheit kaum ein öffentliches Bewusstsein, die von Deutschen begangenen Verbrechen wurden bis heute nur ungenügend aufgearbeitet. Dazu gehört besonders der Völkermord an den Herero und Nama in der Kolonie DeutschSüdwestafrika (heute Namibia) von 1904 bis 1908, in Folge dessen schät zungsweise 70.000 bis 80.000 Herero und ungefähr 10.000 Nama umgebracht wurden.
Der Historiker und Afrikawissenschaftler Jürgen Zimmerer verfolgt den mühseligen und von der deutschen Bundesregierung halbherzig begegneten Versuch der Nachfahren um Anerkennung und Entschädigung. Für ihn ist der Völkermord „der erste deutsche Genozid“ des 20. Jahrhunderts. In seinen Büchern arbeitet Zimmerer gegen das falsche Bild an, deutsche Eroberer seien gute und harmlose Missionare gewesen. Seit 2014 ist er der Leiter der Forschungsstelle „Hamburgs (post)koloniales Erbe /Hamburg und die frühe Globalisierung“ an der Universität Hamburg, wo er und seine Mitarbeiter die Rolle der Hafenstadt Hamburg in der Kolonialisierung und die heute noch sichtbaren Folgen erforscht.
SZENE HAMBURG: Herr Zimmerer, welche Bedeutung hatte Hamburg für den Kolonialismus?
Prof. Dr. Jürgen Zimmerer: Die spannendere Frage ist… welche Rolle hatte der Kolonialismus für Hamburg? Dazu muss man sagen: Hamburg, das sich gerne als Tor zur Welt preist, war Deutschlands Tor zur kolonialen Welt. Das betrifft nicht nur den Umgang mit den deutschen Kolonien – also die Jahre 1884 bis 1918, denn auch die übrige Welt, mit der man als Hafen stadt Handel trieb, war eine koloniale Welt. Ökonomisch ist Hamburg also eng mit dem Kolonialismus verbunden. Auch kulturell. Denken Sie etwa an das Völkerkundemuseum, das jetzt umbenannt wird. Völkerkundemuseen stellten damals fremde „Kulturen“ aus. Das Bürgertum wollte Exotik sehen, und diese Exotik wurde ausgestellt. Die zur Schau gestellte „Primitivität“ und die Andersartigkeit verstärkten wieder das Überlegenheitsgefühl der Europäer und dienten auch als Rechtfertigung kolonialen Ausgreifens; es herrschte ein symbiotisches Verhältnis zum Kolonialismus.
Welche Spuren sind heute noch sichtbar?
Nehmen Sie Hagenbecks Tierpark. Hagenbeck wird gefeiert für die Erfindung des Freigeheges für Tiere. Um die Jahrhundertwende perfektionierte er aber auch die Völkerschauen, also die Menschenzoos. Darüber wurde er weltbekannt. Man stellte Menschen in ihrem „natürlichen“ Umfeld aus – was bis heute nicht wirklich aufgearbeitet ist.
Was noch?
Zum Beispiel die Speicherstadt, ein Weltkulturerbe. Was wurde da eigentlich gespeichert? Da sind wir auch wieder bei den Kolonialwaren. Oder ein anderes Beispiel: Ein Vorläufer der Universität Hamburg wurde 1908 als Kolonialinstitut gegründet. Lange Zeit hat sich auch die junge Universität über die Kolonialwissenschaften definiert. Im Dritten Reich gab es sogar den Plan, ein zweites Kolonialinstitut zu schaffen.
Durch die 68er gab es dann den ikonischen Sturz des Wissmann-Denkmals, das vor dem Hauptgebäude der Universität stand – eine erste Auflehnung gegen die kollektive Amnesie. Da zeichnete sich der Wandel vom Kolonialinstitut zu einer Institution der Dekolonisierung ab – ein Prozess, der 2014 durch die Einrichtung der Forschungs stelle „Hamburgs (post)koloniales Erbe /Hamburg und die frühe Globalisierung“ in gewisser Weise fortgesetzt wird.
„Hamburg ist tief mit dem Kolonialismus verbunden“
Sie kritisieren die Bundesrepublik häufig für ihre Trägheit in der Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit; besonders im Umgang mit dem Genozid an den Herero und Nama im heutigen Namibia. Wie sieht es mit der Aufarbeitung in Hamburg aus? Die Einrich- tung der Forschungsstelle ist doch ein positives Beispiel.
Ja! Die Einrichtung dieser Forschungsstelle ist ein deutliches Signal und wirklich avantgardistisch – und die Politik hat dafür die Rahmenbedingungen geschaffen. Eine Forschungsstelle als Grundlagenforschung, die für die Kolonialgeschichte Hamburgs die Faktenlage erarbeitet, auf deren Grundlage dann gesamtgesellschaftlich ein Erinnerungskonzept diskutiert werden kann – das ist der richtige Weg. Es ist die einzige Forschungsstelle dieser Art in Europa, sie ist also ein veritables Alleinstellungsmerkmal und findet trotz geringer Mittel internationale Beachtung. Hamburg ist als Ort da für auch richtig, eben weil es als Hafenstadt so tief mit dem Kolonialismus verbunden ist. Mittlerweile, ist nicht zu letzt auf Drängen Hamburgs das Thema Kolonialismus auch mit in den Koalitionsvertrag der Großen Koalition in Berlin aufgenommen worden. Da bewegt sich langsam etwas, aber die Bundespolitik ist nun einmal träge. Wenn Berlin klug ist, nutzt es, was in Hamburg schon da ist.
Welchen Fragen gehen Sie in der Forschungsstelle nach?
Dem Kolonialismus und seinen Folgen in seiner ganzen Bandbreite, und zwar wo immer möglich in Kollaboration mit Kollegen und Kolleginnen aus den ehemaligen Kolonien. So haben wir dieses Jahr etwa drei Künstler aus Namibia hier, die an einem Projekt über historische Fotos aus der Zeit des Genozids an den Herero und Nama arbeiten.
Ein anderer Kollege aus Dar es Salaam, der Partnerstadt Hamburgs, sitzt an einer Studie über die Erinnerung an den deutschen Kolonialismus in Tansania. Ein großes Projekt befasst sich mit der Inszenierung des Kolonialismus in Hamburg, in der Gesellschaft, ebenso wie in den Theater und Opernhäusern in Hamburg. So konnten wir bereits zeigen, dass eben auch das Thalia Theater wie auch alle anderen Bühnen genauso pro kolonial waren wie etwa Hagenbeck. Es gibt auch ein Ausstellungsprojekt über Hagenbeck, aber leider nicht mit den Vertretern von Hagenbecks Tierpark. Sie konnten bisher nicht für eine Zusammenarbeit gewonnen werden.
„Die Handelskammer hatte einen Anteil daran, dass Deutschland zur Kolonialmacht wurde“
Welche zukünftigen Projekte sind geplant?
Wir wollen uns vor allem der kolonialen Wirtschaft widmen, sowohl den kolonialen Warenketten als auch der Beteiligung von Hamburgerinnen und Hamburgern am transatlantischen Sklavenhandel. Damit wollen wir auch unseren Beitrag zum Deutschen Hafenmuseum leisten, das ja in Hamburg gebaut wird. Derzeit sind wir auch in Gesprächen mit der Handelskammer, weil sie historisch einen ganz konkreten Anteil daran hatte, dass Deutschland zur Kolonialmacht wurde. Es gibt ein Schreiben an Bismarck von 1883, in dem steht, Deutschland möge doch bitte Kolonien gründen. Es wäre wichtig, wenn wir sie als Partner gewinnen könnten.
Beim 2. Transnationalen Herero- und Nama-Kongress im April hat sich Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda für den Genozid in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika bei den Nachfahren der Opfer entschuldigt. Sie haben die Situation anschließend als „bewegenden Moment“ bezeichnet.
Das war auch ein bewegender Moment. Als jemand, der sich sein Berufsleben lang der Erforschung dieses Genozids widmet und auch des Rassenstaates, der dort errichtet wurde, hat mich Brosdas Rede beeindruckt. Und dann auch noch hier im Rathaus, ausgerechnet im Kaisersaal, der nach dem Kaiser benannt ist, der den Genozid mitzuverantworten hat. Dass ein Politiker in diesem Rahmen den Nachfahren gegenüber die richtigen Worte findet, ist begrüßenswert, gerade auch weil sich die Bundesregierung hiermit so schwertut. Und für die Nachfahren der Opfer war es ungeheuer wichtig. Sonst wären sie wieder mit diesem Gefühl abgefahren, dass sich in Deutschland kein Mensch darum kümmert, wie es ihren Vorfahren erging.
Wussten die Hamburger damals eigentlich vom Genozid an den Herero und Nama?
Ja! Wir konnten etwa nachweisen, dass Hamburg als Hafenstadt im Hererokrieg eine zentrale Rolle gespielt hat. Die Woermann Linie besaß ein Monopol für Truppentransporte nach Südwestafrika und folglich lief der gesamte Truppen und Nachschubtransport über Hamburg. Es wurden regelrechte Abschiedsfeiern für die abfahrenden Truppen geschmissen. Dieser Krieg war also auch im städtischen Bewusstsein.
„Es gab kaum ein Unrechtsbewusstsein“
Gab es ein Unrechtsbewusstsein?
Ganz generell kann man sagen: Es gab kaum ein Unrechtsbewusstsein. Man war allgemein der Meinung, dass die Verdrängung der einheimischen Bevölkerung durch die Weltgeschichte gerechtfertigt sei, weil die „zivilisatorische Überlegenheit“ dazu berechtige. Eine Haltung, die sich als Muster durch die ganze Kolonialgeschichte zieht.
Das heißt, die Hamburger Bürger wussten konkret, dass Tausende Menschen ausgebeutet oder sogar umgebracht wurden?
Sie konnten es wissen. Auch wenn das im Einzelnen schwer zu messen ist. Aber Kolonialismus war präsent, und auch die damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen. Ich denke, es ist wie im Dritten Reich: Die Leute wussten viel mehr oder konnten zumindest viel mehr wissen.
Ein anderes Thema, das für viel Diskussionsstoff sorgt, sind die Straßennamen, die nach Personen aus der Kolonialzeit benannt sind oder auf die Kolonialzeit verweisen. Etwa in der HafenCity.
Die gibt es auch in Wandsbek und in anderen Vierteln. Der Dominikweg oder die Wissmannstraße zum Beispiel.
„Es wird nostalgisch verklärt“
Wie sollte man Ihrer Meinung damit umgehen?
Das ist eine ganz schwierige Frage. Man muss offen darüber diskutieren. Und an dieser Stelle kann auch die Forschungsstelle einen Beitrag leisten, indem sie die Fakten zu den Personen liefert. Wir müssen ganz offen darlegen, wofür diese Namen stehen. Denn meistens wird auch da noch nostalgisch verklärt. Da wird in der Beschreibung des Straßen schildes schon mal aus einem Wissmann, der ein Eroberer und Kriegsverbrecher war, ein „Forschungsreisender“ oder „Afrikakenner“. Man kann sich auch nicht auf die Behauptung zurückziehen, dass es damals anders gemeint gewesen sei. Wenn Gruppen wie die „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“ sich über die Namen beschweren und man sie trotzdem nicht umbenennt, dann ist das im Grunde ein Akt der Neusetzung. Die Gesellschaft sagt: Nein, wir wollen den Kriegsverbrecher ehren. Ob man das will, ist dann die Frage.
Ich finde, dass man einen Teil der Namen umbenennen kann. Wichtig ist nur, dass man sie in Übereinstimmung mit dem historischen Kontext umben ennt. Man sollte einen Wissmann nicht durch irgendjemanden ersetzen, sondern vielleicht durch jemandem, der im Widerstand gegen ihn oder gegen den deutschen Kolonialismus in Ostafrika war. So bliebe der historische Bezug, das historische Gedächtnis erhalten.
Aber Wissmann würde aus dem Bewusstsein verdrängt werden.
Man kann den Straßennamen umbenennen und ein Schild hinzufügen: „Vormals Wissmannstraße“ und dann begründen, warum Wissmanns Bild sich geändert hat und er kein Vorbild mehr für die deutsche Gesellschaft im 21. Jahrhundert sein kann. Vielleicht würde das mehr Aufmerksamkeit auf seine Taten lenken. Aber diese Entscheidung muss die Zivilgesellschaft treffen, unter Einbindung der vom Kolonialismus und Rassismus am unmittelbarsten Betroffenen.