Die Menschheit wird auf die Probe gestellt. Auf was es in der Isolation wirklich ankommt
Text: Basti Müller
Ich lehne mich auf den Stapel Bücher vor meinem Fensterbrett und schaue in den blauen Himmel. Unter meinen sauberen Händen liegt „Die Pest“ von Albert Camus. Darin wird die Stadt Oran von der Pestseuche heimgesucht. Sie wird abgeschottet. Cafés und Kinos sind anfänglich noch geöffnet, nach und nach verlieren die Bürger jedoch jede Art von Emotion. Die örtliche Versorgung ist gänzlich überfordert und im Mittelpunkt dessen steht Dr. Rieux, ein aufopferungsvoller Arzt, der sich nicht zu schade ist, seinen Patienten auch bis zum Tod zur Seite zu stehen.
Noch, und Gott bewahre, ist das System hierzulande nicht überlastet. Dass Deutschland bislang nicht im Corona-Chaos versunken ist, liegt zum Großteil am unermüdlichen Einsatz der Ärzte, Apotheker, Pflegekräfte und allen anderen im Gesundheitssystem Wirkenden. Wie Bund und Länder müssen sie von Tag zu Tag neu denken: Stationen räumen oder zusammenlegen, Betten aufbauen, Beatmungsgeräte bereithalten, Operationen verschieben, um den vom Virus Betroffenen den Vortritt zu lassen. Täglich setzen sie sich nicht nur einem erhöhten Ansteckungsrisiko, sondern auch zum Teil panischen Patienten aus. Das muss man sich einmal reinziehen: Während ich von einem wohlbehüteten Zimmer aus Vögel zwitschern höre, kämpfen die Ärzte und Pflegekräfte gegen die Zeit, eine exponentiell steigende Anzahl Neu-Infizierter und immer knapper werdende Ressourcen.
Was Menschsein bedeutet
Deshalb verstehe ich die Menschenmassen nicht, die sich sonntags an der Alster tummeln, geschweige denn die zwei älteren Kaliber, die sich auf der Straße vor meinem Fenster begegnen. Sie plaudern und stehen einen halben Meter voneinander entfernt. Der eine schnaubt in sein Stofftaschentuch, zum Abschied geben sie sich die Hand. „Bleib gesund“, lese ich auf den Lippen. Wie ironisch! Da stimme ich dem Radfahrer, der letztens wütend über den Altonaer Wochenmarkt brauste, doch glatt zu: „Seid ihr alle noch ganz dicht?“
Auch die Oraner begegnen der Pest zunächst mit Ignoranz, bis zum Höhepunkt des Dramas die Zahl der Todesopfer auf mehrere Tausend steigt. Es bildet sich ein Schema heraus, als fordere die Pest nur den Tod von jenen ohne Solidarität. Nun Parallelen zum Buch zu ziehen, das wäre ja unverschämt! Mache ich aber trotzdem. Zwar sorgt Covid-19 nicht wie im Roman für schwarze Beulen, aber Fakt ist, wer in diesen Tagen unter Leute geht, treibt die Ausbreitung des Virus voran. In Italien müssen die Leichen in den Krematorien schon gestapelt werden. Da nehme ich trockene Hände und den Umstand, dass ich meine Familie für eine Weile nur über Skype sehen kann, doch in Kauf.
Nutzen wir dieses kleine Zeitfenster stattdessen, wie es Camus in seinem Roman vormacht, um uns darüber klar zu werden, was Menschsein bedeutet: Was die wichtigen Dinge im Leben sind, wie wichtig jeder einzelne für das System ist und welchen Einfluss wir auf unsere Umwelt haben. Vielleicht gibt uns das Virus die Möglichkeit, einige Denkanstöße aus der Zeit vor Corona auch danach zu verwirklichen. Bis dahin weiß ich die Zeit auf jeden Fall zu nutzen: Verwandte und alte Freunde anrufen, unser Bad renovieren, mein Fenster putzen, einen klaren Blick behalten und lesen. Übrigens überlebt Dr. Rieux die Pest und ich bin jetzt schon beim nächsten Buch. Robinson Crusoe von Daniel Defoe. Passt irgendwie.
Katharina Schütz liest „Die Pest“ von Albert Camus
Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren
SZENE HAMBURG Stadtmagazin, April 2020. Das Magazin ist seit dem 28. März 2020 im Handel und auch im Online Shop oder als ePaper erhältlich!