Gotthold Ephraim Lessings Dramenfigur „Nathan der Weise“ erklärte 1779 die Toleranz gegenüber Andersdenkenden zum wichtigsten Gut der Aufklärung und des Humanismus. Weil sie vor Fanatismus, Rassismus und Populismus schützt, ist Aufgeschlossenheit allerdings auch in unserer Gegenwart unverzichtbar. Wie aber werden Toleranz und Verständigung zwischen verschiedenen Kulturen und Religionen in Zeiten verhärteter Fronten möglich? Seit 2010 treten die Lessingtage am Thalia Theater alljährlich in die Fußstapfen ihres namensgebenden Dichters und Denkers, indem sie Überlegungen zu dieser Frage anstellen.
Die 16. Lessingtage, die zum letzten Mal unter der Ägide des scheidenden Intendanten Joachim Lux im gewohnten Format stattfinden, bringen wieder internationale Theaterproduktionen in die Hansestadt. Die künstlerischen Positionen kommen aus acht Ländern, darunter sind China, die Ukraine und Iran. Das Festival-Motto „Fantasies of another life“ verbindet alle Projekte: „Die Kunst erspürt die Poesie hinter der (individuellen) Geschichte und setzt sich mit der Kraft von Fantasie und Imagination der Wirklichkeit entgegen oder sogar über sie hinweg“, erklärt Lux. So erzähle die Kunst von dem, was die Menschen trotz aller Nöte und Widrigkeiten umtreibe, „nämlich alternative Wirklichkeiten zu imaginieren“, Visionen eines besseren Lebens.
Passend zum Prinzip Hoffnung hält die Klimaexpertin und Tiefseeforscherin Antje Boetius die Festival-Eröffnungsrede und denkt, ausgehend von dem Lessing-Vers „Freund, komm mit mir aufs Meer“, öffentlich über Utopien für das Zusammenleben nach. Auch das erste von neun Gastspielen bei den Lessingtagen 2025 setzt sich mit einer uralten Utopie auseinander: Die Deutschlandpremiere „Works and Days“ aus Antwerpen fahndet nach einer Möglichkeit, die Menschen wieder mit den Zyklen der Natur in Einklang zu bringen. Um die Suche nach einer Identität indes geht es in dem Stück „Taverna Miresia“ von Mario Banushi, das aus Athen ins Thalia Gaußstraße kommt und die persönlichen Erfahrungen des Regisseurs als albanisches Einwandererkind in Griechenland verarbeitet.
Lessingtage: Tanz, Theater und Poesie
In einer fremden Welt muss sich auch der Protagonist des chinesischen Gastspiels „Die Wanze“ zurechtfinden, denn er wird in die Zukunft versetzt und dort als Unikum im Zoo ausgestellt. Eine Frau, die sich in einer Männergesellschaft behauptet, steht im Zentrum von „Underground Girls“ aus dem usbekischen Taschkent, wo der polnische Regisseur Jakub Skrzywanek den Freiheitskampf der Schauspielerinnen in das Projekt einband. In der Regie von Stefan Bachmann, dem Direktor des Wiener Burgtheaters, unternimmt das Stück „Akıns Traum“ eine Zeitreise durch das Osmanische Reich, während die Mehr Theatre Group aus Teheran mit „Blind Runner“ von einer Flucht durch den Kanaltunnel nach England erzählt.
Von dort reist die Akram Khan Company nach Hamburg zu den Lessingtagen: In dem Tanztheaterstück „Jungle Book reimagined“ wird das Dschungelkind Mogli, das hier ein Mädchen ist, in eine apokalyptische Welt versetzt. „How Goes The World“ fragt schließlich der britische Regisseur Tim Etchells, der sich in seiner Arbeit mit den Mechanismen des Theaters befasst und sich nun nahezu wortlos den Gegenständen sowie Geräuschen zuwendet, die Bühne und Welt beherrschen. Im Rahmen der Lesungen, die neben Schauspiel, Solo-Performance (Ivan Estegneev: „Die Trauer des Dämons“), Vorträgen und Gesprächen zum Programm der Lessingtage gehören, liest etwa der Burg-Mime Michael Maertens aus Briefen, die der Putin-Kritiker Alexej Nawalny im Gefängnis schrieb. Zum Abschluss des Festivals wird die „Lange Nacht der Weltreligionen“ begangen, deren Thema lautet: Religion und Weiblichkeit.
Lessingtage am Thalia Theater, 15. Januar bis 2. Februar 2025
Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG 01/2025 erschienen.