„Schön ist die Nacht“ von Christian Baron ist Literatur mit Klasse, meint unsere Literaturkritik
Text: Ulrich Thiele
Die große Möglichkeit der Literatur ist es, sich in Denk-, Zeit- und Lebensräume vorzutasten, die einem normalerweise nicht zugänglich sind. Christian Baron bietet seinen Lesern diese Möglichkeit, weil er dem großen Thema, das er verhandelt, nicht einfach eine Geschichte überstülpt. Sein Thema, die Klassenfrage im Kapitalismus, wächst aus der Literatur, aus dem Herantasten in menschliche Köpfe und Lebenswelten.
In seinem 2020 erschienenen Erstling „Ein Mann seiner Klasse“ erzählte Baron von seinen eigenen Familienverhältnissen im Arbeitermilieu Kaiserslauterns der 90er-Jahre. Das Buch war ein Novum, weil Baron mit Wärme und Distanz den Elefanten im Raum adressierte, den selbst Linke oder Linksliberale vor lauter Identitätsdebatten übersehen: Deutschland ist eine Klassengesellschaft.
In „Schön ist die Nacht“ erzählt Baron nun von seinen Großvätern im Arbeitermilieu Kaiserslauterns der 70er-Jahre. Der Zimmermann Willy wünscht sich nichts sehnlicher als ein normales Leben mit Eigenheim. Er möchte „anständig“ sein und mutet dabei an wie die Figur Shen Te in Bertolt Brechts Drama „Der gute Mensch von Sezuan“, dessen Versuch, ein guter Mensch zu sein, von den Systemzwängen des Kapitalismus unmöglich gemacht wird.
Kein Happy End
Willys Freund Horst ist ein ungelernter Hilfsarbeiter. Er glaubt schon lange nicht mehr daran, auf ehrliche Weise zu Wohlstand zu kommen. „Schön ist die Nacht“ ist literarischer als sein Vorgänger. Plastisch beschreibt Baron die Spelunken, Baustellen, heimischen Küchen mit Brandflecken an den Wänden. Den Figuren nähert sich Baron nicht naturalistisch an, sondern mit einer Art poetischem Pfälzisch. Nicht nur die Charaktere reden in pfälzischem Dialekt, auch der Erzähler greift Dialekt und Slang auf und verwebt sie mit seiner literarischen, „hochdeutschen“ Sprache. Bemerkenswert sind auch die Nebenfiguren. Die Frauenfiguren sind zwischen Gewaltausbrüchen, Alkoholismus und Emanzipationsbestreben ebenso ambivalent wie Horst und Willy. Die sogenannten „Gastarbeiter“ sind nicht bloß Statisten, sondern erhalten Würdigung durch Vertiefung. Willys Besuch bei Ömer ist eine von mehreren unsentimental emotionalen Szenen, die die Kluft zwischen Zerrbild und Realität auf den Punkt bringt und wie geradezu tragisch ein Zerrbild den Kern des Elends vernebelt.
Dass die Handlung weitgehend in den 1970ern spielt, ist kein Zufall. Ölkrise, Konjunkturabschwung, Marktsättigung – der Kapitalismus gerät in die Krise. Willys und Horsts Geschichte hat kein Happy End, so wie die Realität der ökonomisch unteren Schichten damals wenig Anlass zur Freude verhieß. Wenige Jahre nach dem Handlungszeitraum, in den frühen 1980ern, setzten Ronald Reagan und Margaret Thatcher den globalen Siegeszug des Neoliberalismus in Gang.
Christian Baron: „Schön ist die Nacht“, Claassen, 384 Seiten, 23 Euro