Regisseur Jan Bosse entdeckt Sidney Lumets filmische Mediensatire „Network“ aus dem Jahr 1976 für das Thalia Theater und erzählt, was sie über die Gegenwart aussagt
Interview: Sören Ingwersen
SZENE HAMBURG Jan Bosse, worum geht es in dem Film „Network“, dessen Stoff sie auf die Bühne des Thalia Theaters bringen werden?
Jan Bosse: „Network“ ist eine vierfach oscar-prämierte, bitterböse Satire aus dem Jahr 1976 über den Ursprung des kommerzialisierten Fernsehens. Es geht um den älteren, in der Krise steckenden Nachrichtensprecher Howard Beal, der entlassen werden soll und für seine letzte Sendung ankündigt, sich vor laufender Kamera zu erschießen. Der Sender merkt, dass Beals Zorn, der eine Revolte gegen das Medium Fernsehen darstellen sollte, große Aufmerksamkeit erreicht.
So wird die Sendung ein Quotenhit und Beal als eine Art Guru inszeniert.
Ist es im Zeitalter der digitalen Medien noch denkbar, dass eine einzige Sendung ein so großes Echo in der Gesellschaft hervorruft? Inwieweit ist der Stoff heute noch aktuell?
Der Stoff ist in gewisser Weise tatsächlich altmodisch. Er steht aber am Beginn von etwas, das man als große Entwicklung lesen kann und ist im gewissen Sinn der Nukleus der schamlosen Inszenierung von Öffentlichkeit und der Manipulation von Wahrheit. Gibt es überhaupt noch Wahrheit, wenn Nachrichten zu Meinungen werden?
Heute steht es jedem frei, im Internet auf nahezu unbegrenzte Informationsquellen zurückzugreifen. Ist es dadurch nicht viel schwieriger geworden, Menschen zu manipulieren?
Meine Generation hat die Entstehung des Internets miterlebt und die unglaubliche Freiheit, die es versprach, weil es anfangs als sehr demokratisches Medium galt. Ohne zynisch sein zu wollen, scheint es mir, dass diese Freiheit nicht mehr existiert. Den sogenannten seriösen Journalismus, an den ich als 50-Jähriger immer noch glaube, halten viele für inzwischen total ausgehebelt. Amerika ist in dieser Hinsicht immer schon ein gutes Beispiel gewesen, weil sich die Phänomene dort viel mehr zuspitzen. Fox News zum Beispiel ist ein Sender, der inzwischen ganz offensichtlich Regierungspropaganda betreibt und unter dem Gaukelspiel der Objektivität Meinung fabriziert und gestaltet.
Also sehen Sie auch einen aktuellen Bezug zu Ihrer Inszenierung?
Ich möchte den Stoff gar nicht aktualisieren und erhoffe mir eher – fast wie bei einem Klassiker –, dass der Abstand zu den Realitäten, auf die man schaut, zu einem Erkenntnisgewinn führt. Im humoristischen Bereich funktioniert das ja auch sehr gut. Nehmen Sie eine Zigarettenwerbung aus den 1960er Jahren, wo die Kinder den Eltern etwas zu rauchen anbieten und fast noch fragen, ob sie selbst auch mal ziehen dürfen. Das ist aus heutiger Sicht, wo Rauchen fast schon ein gesellschaftliches Tabu ist, eine bitterböse Satire, weil solche Sachen heute total abstrus erscheinen, sich im Kern aber nicht viel verändert hat.
Howard Beal, ein etabliertes Mitglied aus der gesellschaftlichen Mitte, hat keine Hemmungen, seinen Zorn öffentlich zu artikulieren. Ist er ein Vorläufer des heutigen Wutbürgers?
Der Wutbürger tritt in der Masse auf und artikuliert seine Stimme auf der Straße. In unserem Stück bewegen wir uns aber in der geschlossenen Welt des Fernsehstudios. Die Realität endet nur per Außenschaltung statt, wo man dann Menschen sieht, die inspiriert von Howard Beal ihrem Zorn Luft machen. Hinter Beals Slogan „I’m mad as hell and I’m not gonna take it anymore“ steht aber keine politische Haltung, keine Idee und kein Ziel. Er ist kein Revolutionär, Anarchist oder Wortführer – er schreit nur seine Wut heraus, wobei am Ende die Frage offenbleibt: Wohin führt diese aufgerissene Gesellschaft? Da gibt es eine deutliche Parallele zu heute. Ob das in dem Film damals so gemeint war, weiß ich nicht, da Howard Beal trotz seiner psychotischen Störung dort eine große Sympathiefigur ist.
Wird Beal auch bei Ihnen zum Sympathieträger?
Bei uns ist die Figur mit Wolfram Koch besetzt, mit dem ich in Frankfurt vor zwei Jahren „Richard III.“ und vor zwei Monaten „Jedermann (stirbt)“ inszeniert habe. Es ist natürlich toll, wenn man es schafft, dass die Zuschauer eine solche Figur lieben, die sich dann in eine Richtung verändert, der man nicht mehr applaudieren möchte. Dadurch bekommt die Haltung des Zuschauers eine ähnliche Ambivalenz wie die Figur. Ein Charmeur und Entertainer, der zum Tyrannen wird – dafür ist Wolfram genau der Richtige.
Thalia Theater
24.10. (Premiere), 31.10. und weitere
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