Seit 1977 gibt es Michelle Records, Hamburgs ältesten Plattenladen. Warum Michelle? Das weiß keiner so genau, selbst Geschäftsführer Christof Jessen nicht. „Ich habe den Vorbesitzer gefragt. Auch er wusste es nicht. Ganz früher gab es zwei Läden, Michelle Records und Francoise Records. Die hatten damals den gleichen Besitzer. Vielleicht stand der Mensch auf französische Vornamen.“ Der Plattenladen, der anfangs für ein Jahr am Glockengießerwall war, hat seit 1978 seinen Standort in der Hamburger Innenstadt im Gertrudenkirchenhof 10. Jessen, der selber Musiker ist, ist seit 1986 mit dabei. Damals waren sie noch zu dritt, heute betreibt er den Laden alleine. Daneben spielt Jessen in einer Band und macht auch Kunst. Einige seiner Werke sind im Laden ausgestellt. Große Kunst sind außerdem die sogenannten Schaufensterkonzerte, die den Laden regelmäßig zum Brummen bringen. Bands wie Calexico, Maximo Park oder Yo La Tengo waren schon zu Gast.
Inzolvenz? Ende der Neunziger ging es Michelle Records nicht gut
Doch wie kam das alles? Ende der 1990er-Jahre musste Michelle Records Insolvenz anmelden. In einer Zeit des medialen Umschwungs fiel es vielen traditionellen Geschäften schwer, darauf zu reagieren. Ein neues Konzept musste her. Die Einbindung lokaler Musik aus Hamburg war Teil der Neuausrichtung, ebenso wie die Schaufensterkonzerte.
„Nachdem ich mit meiner Band auf einem Festival in Amerika spielte, das mit dem Reeperbahn Festival verglichen werden kann, kam die Idee für die Schaufensterkonzerte auf“, berichtet Jessen über die Anfänge des neuen Konzepts. Er erinnert sich, wie beeindruckt er war, dass jede Pizzabude, jeder Kiosk eine Bühne aufbaute und vor allem jungen Künstlerinnen und Künstlern eine Chance gab, ihre Musik zu präsentieren. „Die schwierigste Situation ist für Bands immer vor Ort, in der eigenen Stadt, die ersten Schritte zu gehen. Wenn man es dann mal nach England oder sogar Amerika schafft, dann sagen alle immer ‚ja, tolle Band‘, aber der Weg vorher ist sehr schwer.“
Von Schaufensterkonzerten bei Michelle Records
Die Schaufensterkonzerte wurden schnell immer populärer, weil Jessen durchs Touren mit seiner eigenen Band Leute kennenlernte, die später dann als Musiker für ein Konzert in seinen Laden kamen. In den USA ist es schon lange üblich, dass Musikschaffende vor den eigentlichen Konzerten Ausschnitte in nahe gelegenen Plattenläden präsentieren. Das Besondere an den Konzerten bei Michelle Records? „Wir veranstalten die Konzerte verlässlich und professionell, was die Logistik angeht. Der Soundcheck dauert maximal zehn Minuten, wir haben vorher schon alles aufgebaut und vorbereitet. Das geht natürlich auch nur, wenn jede mitarbeitende Person genau weiß, was sie zu tun hat.“
Die Idee dahinter ist, die Musik als etwas Nahbares zu den Leuten zu bringen. „Wir wollen nicht, dass die Bands auf einer erhabenen Bühne stehen und das Publikum zu ihnen heraufschaut. Vielmehr wollen wir Musik, Kultur und Menschen miteinander vereinen. (…) Deswegen haben wir zum Beispiel auch keine Lichtanlage. Wenn Magie passiert, passiert das, weil ein paar Leute auf der Bühne stehen. Und wenn diese Leute vielleicht gerade mal einen schlechten Tag haben, dann passiert auch keine Magie“, so Inhaber Jessen.
Wir wollen nicht, dass die Bands auf einer erhabenen Bühne stehen und das Publikum zu ihnen heraufschaut
Christof Jessen, Michelle Records
Lange Schlangen vor dem Plattenladen
Um die 400 Konzerte haben bereits im Schaufenster von Michelle Records stattgefunden. Fast 300 Leute passen in den Plattenladen, als nach der Corona-Zeit alles wieder aufgemacht wurde, war die Schlange vor dem Eingang teilweise 200 bis 300 Meter lang. Es spielen kleine und große Bands. Auch wenn zu den unbekannteren Acts weniger Leute kommen, sind sie für Jessen genauso relevant wie die bekannten Namen. „Es ist wichtig, dass wir Independent-Platten verkaufen, weil zwar die Plattenfirmen über die Streaming-Anbieter große Umsätze machen, aber für die einzelnen Künstler sehr wenig abfällt. Um die Erträge von einer Platte zusammenzuhaben, brauchst du als Künstler ein paar Hundert, ein paar Tausend Streams.“ Es gibt eine Stammkundschaft, die sich alle Konzerte anguckt. Einfach nur deshalb, weil die Bands von Michelle Records ausgewählt wurden. Nicht jedes Konzert muss immer gut sein. Dass es spannend sei, sei wichtig, meint der Musikkenner.
Christof Jessen: „Vinyl hat man einfach viel lieber in der Hand“
Laut Jessen habe es keine Zeit gegeben, in der Platten jemals uninteressant waren. „Die Platte ist für mich nicht der ‚alte Tonträger von früher‘, weil ich immer schon damit gearbeitet habe. Vinyl hat man einfach viel lieber in der Hand und es klingt ja auch ganz anders. Nicht unbedingt besser, aber anders. Und ich mag den Klang sehr gerne.“ Eine seiner ersten Platten war eine von Elvis Presley. Die hatte ihm ein Kumpel mit zwölf Jahren gezeigt. Nachdem er versprochen hatte, sie ja nicht nachzukaufen, wünschte er sie sich zu Weihnachten. Danach folgten Platten von den Beatles.
Dass LPs immer teurer werden, findet der Plattenladen-Inhaber nicht richtig. Ihm sei wichtig, dass die Kunst für alle zugänglich sei und sich Platten nicht nur „Zahnärzte und Rechtsanwälte“ leisten können. Genau deswegen bietet er auch gebrauchte Platten an. Simon & Garfunkel und The Doors kann man in der Secondhand-Abteilung finden. „Das kaufen gerade junge Leute, Teenies. Die noch jüngeren Leute kommen mit ihren Eltern und die spendieren dann eine Taylor Swift- oder Lana Del Rey-Platte.“ Egal ob Jung oder Alt, jede Art von Kundschaft ist bei Michelle Records gerne gesehen. Dabei mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, macht Christof Jessen besonders viel Spaß. „Als Plattenverkäufer ist mir relativ egal, was du willst, ich versuche dir das zu verkaufen, was du brauchst. Daraus können langjährige Freundschaften entstehen und wir kreieren Verbindungen, in denen die Leute immer wiederkommen.“
Michelle Records, Gertrudenkirchhof 10 (Altstadt)
Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG STYLE 2025 erschienen.