Die Idee ist so genial wie simpel: Äpfel, die normalerweise verderben würden, werden zu Saft verarbeitet. Das Geld fließt zurück in die Firma. Und die finanziert damit Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung. 23 Menschen haben so einen Job in der freien Wirtschaft bekommen – beim gemeinnützigen Unternehmen „Das Geld hängt an den Bäumen“.
Der Mann mit der Latzhose schüttelt den Kopf: „Warum stehst du nicht zu deinem Alter?“, fragt er. „Ich verstehe nicht, warum Frauen sich die überhaupt die Haare färben …“ Jan Schierhorn lacht laut auf. Er kennt diese Fettnäpfchen, in die Olaf gern mit vollem Anlauf springt. Schierhorn ist Gründer dieses Saftladens. Und in dem müsse man mit dieser „Abwesenheit von Diplomatie“ umgehen können, sagt er. Dann sei die Ehrlichkeit ein großes Geschenk.
23 Mitarbeiter zählt das Team um die beiden Geschäftsführer Jan Schierhorn und Svenja Weber mittlerweile. Fast jeder hat irgendeine Art von Behinderung. Asperger, taub, blind, lernverzögert, sozialphobisch. „Mich interessiert das aber erst mal nicht“, sagt Weber. „Ich muss wissen, was derjenige kann, worauf man achten muss und wie man jemanden weiterentwickeln kann.“ Sie traut Menschen grundsätzlich erst einmal mehr zu, will Stärken fördern. Und das sei auch das Schöne: „Top ausgebildete Leute haben vielleicht noch ein Potenzial von fünf bis zehn Prozent“, sagt Jan Schierhorn. „Bei unseren Leuten liegt das bei 80-90 Prozent.“
Dass er mit stolz geschwellter Brust einen Schluck vom selbst produzierten Apfelsaft nimmt, passiert eher unbewusst. Schierhorn ist keiner, der mit seinen Erfolgen protzen muss. Das „Ich“ hat er fast aus seinem Wortschatz verbannt, will nicht im Fokus stehen. Das war nicht immer so. Damals, als er sich noch über seinen Job in der Werbe- und Kommunikationsbranche definierte, wollte er gern beweisen, was er alles kann. Immer auf der Jagd nach Erfolg, immer mit dem Kopf bei der Arbeit. So richtig bewusst sei ihm das erst geworden, als seine dreijährige Tochter neben ihm auf dem Fußboden spielte und dabei immer vor sich hin brabbelte: „Papa nicht da, Papa nicht da.“ Da wusste Schierhorn: Er muss runter vom Gaspedal, Tempo aus dem Leben nehmen.
An einem Sommerabend 2008 blickte er gedankenverloren in seinen Garten im Stadtteil Groß Borstel: Trotz unzähliger Apfelkuchen und Gläser voller Apfelmus trug der alte Apfelbaum noch immer viel zu viele Früchte. Beim Grübeln darüber, was man mit all den Äpfeln tun solle und dass sicher auch anderswo vieles auf dem Kompost lande, kam ihm eine Blitzidee: Die Äpfel alter Streuobstwiesen und aus Nachbars Gärten zu Saft verarbeiten und mit den Einnahmen Arbeitsplätze schaffen, vielleicht sogar für diejenigen, die es sonst nicht ganz so leicht haben – warum nicht Nachhaltigkeit und Soziales verbinden? Der Startschuss für „Das Geld hängt an den Bäumen“.
Dass das anfangs nicht gleich klappte, lag am Ich. „Ich habe versucht, die Idee im Habitus eines Unternehmers nach vorn zu bringen: ICH weiß das, ICH hab den Kontakt, immer nur Ich.“ Aber soziales Arbeiten funktioniert nicht, wenn einer ruft und alle anderen müssen springen. „Das ist wenig demütig“, weiß Schierhorn heute. Ein Lernprozess. „Das hat mich sehr geerdet.
Wenn er heute von dem Projekt erzählt, spricht er darum vom Wir. Und das hat ganz schön viel erreicht: 50 Tonnen Äpfel wurden in der vergangenen Saison in einer Slow-Food-Mosterei zu Saft verarbeitet und in 120.000 0,5 l- und 88.000 0,75 l-Flaschen abgefüllt. Die Flaschen mit dem originellen Etikett, das die eigenen Mitarbeiter zieren, werden hauptsächlich an Privatkunden, Gastronomen und Unternehmen in der Metropolregion verkauft, darunter auch das Rathaus und das Inklusionsbüro. Die neu aufgelegte naturtrübe Apfelschorle soll jetzt als erstes Produkt des Unternehmens bundesweit an den Start gehen. Rund 150.000 Flaschen werden in 2018 dafür voraussichtlich produziert.
„Schmeckt immer immer anders“ lautet der Slogan und der ist wörtlich gemeint. „Wir wollen gar keine Revolution des Massenmarktes“, betont Schierhorn. Es sei einfach eine Haltungsfrage: „Warum müssen wir ein stetig gleich schmeckendes Produkt machen, wenn es das in der Natur gar nicht gibt?“ Wichtig ist: Nur reifes und ungespritztes Obst wird verarbeitet, vornehmlich alte Sorten. Anders als in den Anfangszeiten kommen die meisten Äpfel heute aber nicht mehr aus Omas Garten, sondern von Streuobstwiesen der Hansestadt und alter Höfe. Auch neue Streuobstwiesen legt das Team an. So werden Ende des Jahres 2.000 Bäume bewirtschaftet.
Experten sind Schierhorn und Weber aber noch lange nicht. „Wir lernen jeden Tag“, betonen sie. „Wir wissen, bei wie viel Grad die Biene fliegt, welche Schädlinge es gibt und welche Äpfel gut schmecken. Aber wenn du mir jetzt drei Äpfel hinstellst, wüsste ich nicht, welcher lecker ist“, gibt Schierhorn zu. Er beschreibe das häufig mit Dilettantismus. Oder, um es positiver zu sagen: „Wir sind Generalisten.“ Alles wissen müsse man auch nicht: „Dafür gibt es Experten“, ergänzt Weber. „So können wir die Qualität sichern und ein Produkt auf den Markt bringen, an das wir einen sehr hohen Anspruch haben.“
Lager, Etikettierung, Konfektionierung, Auslieferung, Garten- und Landschaftsbau, Büro – die Einsatzorte für die Mitarbeiter sind vielseitig. Als Kooperationspartner von den Elbe-Werkstätten bietet das gemeinnützige Unternehmen ausgelagerte Arbeitsplätze, andere werden über das Jobcenter oder das Arbeitsintegrationsnetzwerk Arinet besetzt. Über ein mehrstufiges Praktikum wird nicht nur geprüft, ob der Bewerber der Aufgabe gewachsen ist, sondern auch ins Team passt. „Es ist jedes Mal wieder eine Herausforderung, neue Kollegen zu integrieren.“ Schließlich hat jeder so seine kleine Macke, mit der auch alle anderen umgehen können müssen. „Es können nicht auf einen Schlag zehn Leute dazu kommen, wir müssen so wachsen, dass es für jeden machbar ist und das Team es auch aushalten kann.“
Wenn ein Kollege zum Beispiel montags erst mal die Mülltonnen sortieren muss, dann kostet das zwar Zeit und damit auch Geld. Aber es sei eben auch elementar wichtig, damit er sich hier wohlfühlen könne. Und wehe, da fehle mal eine Palette oder eine Tüte. Dann brenne die Luft. „Wir haben hier ganz andere Auseinandersetzungen und Emotionen als andere Unternehmen. Ganz andere Themen, die dazu beitragen, das kleinere Eklats entstehen.“ Das sei zwar aufwendig, doch dafür sei es auch ein großes Geschenk zu erleben, dass etwas passiert, was eigentlich nicht passieren kann: „Dass ein Autist plötzlich eine vertrauensvolle Nähe zulässt und vielleicht sogar Interviews gibt, ist fast unmöglich. Bei uns passiert so was aber“, erzählt Svenja Weber und betont: „Wir wollen hier niemanden umerziehen, aber die Stigmatisierung auflösen und Facetten zeigen, die bisher nicht so deutlich wurden.“ Klar ist: „Hier arbeiten Leute miteinander und als Team füreinander, die du normalerweise nicht zusammenarbeiten lassen würdest.“
Dass sie das ganz erfolgreich tun, zeigt die steigende Nachfrage. Erst im Frühjahr konnte mit Eurest einer der größten Betriebsrestaurant-Betreiber als Kunde gewonnen werden. Muss der Saft aber nicht auch auf den Getränkekarten der Hamburger Gastronomie stehen, die Nachhaltigkeit und Soziales ganz großschreibt? „Ach“, wehrt Schierhorn ab. „wenn ein Saft 20, 30 Cent mehr kostet als der andere, dann ist das mit der Nachhaltigkeit so eine Sache.“ Er will niemandem etwas verkaufen. „Das würde bedeuten, dass ich jemanden von meinem Produkt überzeugen will“, wehrt er ab. Darum wird an den Preisen auch nicht geschraubt, lieber verzichtet Schierhorn auf einen neuen Kunden. „Kein Mensch braucht noch einen neuen Apfelsaft. „Aber wenn jemand von unserer Geschichte überzeugt ist, gibt es eine ganz, ganz große Kundenloyalität. Fluktuation ist nicht unser Problem“, sagt er.
Das Minus auf dem Konto dagegen ist eines. Bei 450.000 Euro Umsatz klafft am Ende ein Loch in Höhe von 150.000 Euro. Trotz all des Erfolgs, der Förderprogramme und der Zuschüsse ist das Unternehmen darum auf Spenden angewiesen. Aber: „Ich kann unsere Arbeit hier nicht in Geld messen“, sagt Schierhorn fast entschuldigend. Doch auch hier lernt er dazu: „Ich weiß, dass das Blödsinn ist. Unsere gesellschaftliche Arbeit ist viel wert. Wir entlasten das System: Jeder, der hier ist, wird vom Hilfeempfänger zum Steuerzahler – das ist eigentlich eine ziemlich coole Sache. Und für den Menschen und die Natur sowieso, da kann man eigentlich schon mal irgendwo klopfen und um Hilfe bitten.“
Wenn er einen Wunsch frei hätte, würde er genau das tun: Um 150.000 Euro bitten. „Wir haben im letzten Jahr 14 Leute eingestellt. Wir haben sehr große Kunden dazugewonnen, aber wir haben alle Reserven aufgebraucht“, so Schierhorn. Es gehe darum, agieren zu können statt immer nur zu reagieren. „Wir haben nie Luft, um mal in Ruhe zu testen, was noch so geht“, sagt auch Svenja Weber. Sie würde am liebsten auch einen Sozialpädagogen einstellen. „Die Professionalität, die jedes Unternehmen braucht, wenn man diesen Wachstumsschritt gemacht hat, lässt sich bei uns noch nicht von allein finanzieren.“ Ideen haben die beiden noch viele. Zum Beispiel Strandkörbe aus alten Obstkisten produzieren. „Jetzt müssen wir uns aber erst mal fokussieren und optimieren.“
Was die beiden als Arbeitgeber auszeichnet und warum die Mitarbeiter mit viel Leidenschaft dabei sind? „Woanders wird nicht gelobt, da wird nur gesehen, dass man schnell die Arbeit fertig macht – zack, zack“, sagt Olaf und bekommt ein zustimmendes Nicken von Samuel, der seit 2011 dabei ist: „Hier ist das komplett anders. Hier achtet man aufs Tempo. Einige sind schneller, andere langsamer. Und man hilft sich gegenseitig.“
Text: Ilona Lütje
Beitragsbild: Ana Maria Arevalo
Um die Arbeitsplätze finanzieren zu können, die Olaf und seinen Kollegen ein unabhängiges Leben ermöglichen, ist das Projekt auf Spenden angewiesen: IBAN: DE78 2005 0550 1002 1182 38; www.dasgeldhaengtandenbaeumen.de
Dieser Text stammt aus der Beilage „Vielfalt Leben“, dem gemeinsamen Magazin von SZENE HAMBURG (Juni 2018) und dem Inklusionsbüro. Das Magazin ist seit dem 26. Mai 2018 im Handel und zeitlos in unserem Online Shop oder als ePaper erhältlich!