SZENE HAMBURG: Jens, du schreibst vorwiegend über Popmusik in all ihren Facetten. Warum?
Jens Balzer: Weil ich der Meinung bin, dass Popmusik zu den kulturellen Feldern gehört, aus denen sich am meisten darüber ablesen lässt, was gerade in der Gesellschaft passiert. Ich war ja fast 20 Jahre Musikredakteur bei der „Berliner Zeitung“, und allein, wenn man – wie ich – die pop- und auch clubkulturelle Entwicklung Berlins verfolgt hat, konnte man die Entwicklung der Stadt bereits für die nächsten fünf Jahre vorausahnen. Allein durch das, was gerade in den Clubs passierte.
Was denn zum Beispiel?
In den späten Neunzigern, frühen Nullerjahren konnte man beim Ausgehen bereits die nächste Gentrifizierungswelle immer schon ein paar Jahre vorher auf einen zukommen sehen – weil man sah, wie sich zum Beispiel die Bevölkerung in den Innenstadtvierteln veränderte. In den Siebzigerjahren konnte man vorausahnen, wie aus der sogenannten Gastarbeitermusik und der damit einhergehenden sogenannten Gastarbeiterparallelgesellschaft später tatsächlich so was wie eine Einwanderungsgesellschaft oder – wie man früher sagte – multikulturellen Gesellschaft entstehen würde. Oder in der Entwicklung der deutschen Rockmusik in den Nullerjahren: Da konnte man bereits voraussehen, was hinsichtlich des Rechtspopulismus in der Politik passieren würde. Bei den ersten Frei.Wild- und Andreas-Gabalier-Platten lag das gesamte AfD-Programm bereits in musikalischer Form vor.
Interessant.
In der Popmusik sind Entwicklungen oft schon sehr lange vorher ablesbar, bevor sie in der Mehrheitsgesellschaft ankommen. Das macht Popmusik als analytischen und diagnostischen Gegenstand reizvoller als, sagen wir mal, Theater oder Oper – das sind ja tendenziell eher selbstbezügliche Systeme. Zumindest würde es mir da mehr Mühe machen, daraus eine gesellschaftliche Relevanz abzulesen.
Fridays for Future: Eine Bewegung ohne Musik
Haben sich die visionären Qualitäten von Popmusik im Laufe der Zeit verändert? Schon allein im Hinblick darauf, dass Songs heutzutage häufig schneller produziert werden können und damit näher dran sind am Jetzt?
Einerseits ja, andererseits kann man aber auch feststellen, dass bestimmte politische Bewegungen heute keinen Soundtrack mehr haben. Früher hatte Popmusik sehr eindeutige politische Botschaften. Woodstock war beispielsweise gegen den Krieg in Vietnam. Es war klar, wer auf welcher Seite steht. Nun ist aber zum Beispiel Fridays for Future extrem wichtig geworden, auch als jugendkulturelle Bewegung. Es gibt aber keine Musik dazu.
Woran liegt das? Am Sujet?
Zumindest kann man festhalten, dass die Ökobewegung nie relevanten Einzug in die Popmusik gefunden hat. In den Siebzigern gab es ein bisschen Joan Baez und James Taylor, in den Achtzigern in Westdeutschland „Karl der Käfer“, aber das war musikalisch alles furchtbar. Die Ökobewegung hat nie einen coolen Soundtrack gehabt.
Hast du eine Erklärung dafür?
Nicht so richtig. Aber die Anfänge der Ökobewegung liegen ja in den Achtzigerjahren, und da war insbesondere Punk groß – der wollte eher zurück zum Beton, Bier aus Dosen trinken und fand Ökos und Hippies wahnsinnig spießig. Das war alles ablehnenswert – zumal die Grünen dann auch noch die scheußlichste Hippiemusik der Siebziger in die Achtziger getragen haben.
Den Grünen und ihren Anhängern lag zudem die Zukunft am Herzen, das Punk-Motto lautete aber „No Future“.
Ganz genau. Für mich gibt es daher bis heute eine rätselhafte Fremdheit zwischen dem Pop und der Ökobewegung.
„Hamburg hatte schon sehr früh eine schwule Ausgehszene“
Wann hast du angefangen, dich für Musik zu interessieren? Welches waren für dich die prägendsten Musiker oder Platten?
Ich bin Jahrgang 1969 und habe demnach Anfang der Achtzigerjahre angefangen, Platten zu hören – und dann vorwiegend Post-Punk, Industrial und New Wave. Als ich anfing auszugehen – ich habe ja bis Ende der Neunziger in Hamburg studiert – war das erste, was wir in Hamburg hatten, das muss Ende der Achtziger gewesen sein, ein Club namens Front am Heidenkampsweg. Das war ein schwuler House-Club – meiner Ansicht nach einer der ersten in Deutschland. Da haben bereits Leute wie Frankie Knuckles aufgelegt, ohne dass ich damals gewusst hätte, wer das ist. Klaus Stockhausen und Boris Dlugosch haben damals die ersten Chicago-House-Pioniere nach Deutschland geholt. Das war biografisch total prägend für mich; und auch die erste „schwarze“ Musik, die ich gehört habe. Nachdem ich 1989 nach Hamburg gezogen war, kam aber auch schon bald die Hochzeit der Hamburger Schule: Blumfeld machte die erste Platte, Tocotronic spielten die ersten Konzerte.
Ich habe häufig Umstände festgestellt, die deutlich stärker in die Gegenwart hineingewirkt haben, als man gemeinhin annehmen würde.
Jens Balzer
Du hast dich also von Anfang an direkt für mehrere Musikgenres gleichzeitig interessiert?
Ja, aber man muss sagen: Post-Punk in den Achtzigern war deutlich diverser, als man das gemeinhin in Erinnerung hat. Wenn man mit Joy Division und New Order eingestiegen ist, haben einen New Order dann im Laufe der Achtziger zum Manchester Rave geführt. Die haben zum Beispiel mit Arthur Baker zusammengearbeitet, der auch für die New Yorker Szene ganz wichtig war und mit Leuten wie Afrika Bambaataa gearbeitet hat. In den Achtzigern waren „weiße“ und „schwarze“ Musik viel näher aneinander dran, als man das so erinnert. Nur in der autonomen Szene in Hamburg war das anders, in Berlin wahrscheinlich auch. In der Frühzeit der Roten Flora war es völlig unmöglich, im Plenum den Vorschlag zu machen, da mal einen Disco- oder House-Abend durchführen zu lassen. Das galt irgendwie als kulturindustrielle Musik, die nicht Underground genug war.
In der Flora lief aber zumindest auch schon früh Reggae, oder?
Reggae, ja – aber auch viel Nick Cave und andere Musik von weißen Männern aus den Achtzigern. Man muss wirklich sagen, dass die autonome Szene um die Flora und die Hafenstraße herum damals sehr männlich und weiß war. Aber Hamburg als Ganzes war da anders und hatte eben auch schon recht früh eine schwule Ausgehszene, die wiederum sehr offen war für diese Art von Club-Musik.
„Ich will Gesellschaftsgeschichte im Spiegel der Popkultur beschreiben“
Deine bisherigen Bände laufen häufig unter dem Begriff Musikbuch, sind in Wirklichkeit aber ja Bücher der Gesellschaftsgeschichte. War das von vornherein so angelegt oder hast du gemerkt, dass du beim Schreiben über Pop das Gesellschaftliche nicht ausklammern kannst?
Ersteres. Aber wenn man mal so lange wie ich als Musikjournalist gearbeitet hat, dann steht wahrscheinlich für den Rest des Lebens „Musikbuch“ über jedem literarischen Output. Das war aber nie die Idee. Man muss ja auch sagen, dass Musik in den Siebzigern für Gegenkulturen eine deutlich höhere Relevanz hatte als später in den Neunzigern. Mir geht es mit den Büchern darum, die Gesellschaftsgeschichte im Spiegel der Popkultur zu beschreiben – und zwar eine Gesellschaftsgeschichte von Westdeutschland, generell des Westens drum herum. Da spielt Musik selbstverständlich eine Rolle, aber genauso wichtig hinsichtlich des Lifestyles sind Filme, Serien, Kleidung, und wie sich dadurch der Habitus verändert und sich gesellschaftliche Verschiebungen widerspiegeln.
Sind dir bei der intensiven Auseinandersetzung mit den Neunzigern Dinge bewusst geworden oder aufgefallen, die dir vorher noch nicht klar waren?
Sagen wir so: Ich habe sicherlich nichts herausgefunden, was noch nie irgendwo stand. Das war auch nicht Aufgabe des Buches. Aber was ich noch mal aufgearbeitet habe, war, wie stark die Bande der Nazi-Kader in den Osten waren. Die Nazis waren damals wirklich froh, dass sie durch die Gleichgesinnten aus dem Osten nun nicht mehr nur 100 Leute bei ihren Aufmärschen auf die Straße bringen konnten, sondern deutlich mehr – insbesondere viele junge Leute, die begeistert mitliefen; dass der Grundstein für das, was in Sachen Nazitum bei uns seit 2015 und der AfD wieder sehr präsent ist, schon in den Neunzigern gelegt wurde. Das war mir in dieser Intensität nicht klar. Ich habe bei den Büchern generell häufig Umstände festgestellt, die deutlich stärker in die Gegenwart hineingewirkt haben, als man gemeinhin annehmen würde.
Jens Balzer: No Limit: Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit, Rowohlt Berlin, 384 Seiten, 28 Euro
Dieser Artikel ist zuerst in der SZENE HAMBURG 07/2023 erschienen.