Serie: Ach Kiez. Ein Zug durch die Nacht. 1. Teil

Serie: Kiez
Foto: Philipp Jung

St. Pauli ist für viele ein geflügeltes Wort. Ein Ort der Sünde und Sehnsucht. Doch was denken die Menschen, die da wohnen, leben und arbeiten über ihren Kiez? Gespräche mit sechs St. Paulianerinnen und St. Paulianern in den Stunden, in denen sich das Viertel in eine Feiermeile verwandelt. Erster Teil: St. Pauli selber machen & Gastronom Christoph Wilson


Auszug aus unserer Titelgeschichte „Kiez. Zwischen Abscheu & Hoffnung“, erschienen im August 2017. Text: Sara Lisa Schäubli / Fotos: Philipp Jung


Serie Kiez
Steffen Jörg und Sylvia Griepentrog: St. Pauli hat Erfahrung damit, sich Rechte und Räume zu erkämpfen. Foto: Philipp Jung
19 Uhr: St. Pauli selber machen

Wer über den Kiez redet, kommt nicht umhin, gleichzeitig auch über den Wandel des Kiezes zu reden. Damit beschäftigen sich Steffen Jörg und Sylvia Griepentrog von „St. Pauli selber machen“ fast täglich. Dass sich St. Pauli einmischt und nicht auf dem Sofa versauert, ist für Steffen Jörg klar: „St. Pauli hat Erfahrung damit, sich Rechte und Räume zu erkämpfen.“

Paradebeispiele sind für ihn die Besetzung der Hafenstraße in den 80ern und die erfolgreiche Verteidigung des heutigen Gezi Park Fiction als Freifläche. Bei „St. Pauli selber machen“ organisieren sich die Anwohnerinnen und Anwohner zu stadtteilpolitischen Themen. Im Treffpunkt Kölibri am Hein-Köllisch-Platz stehen noch alle Stühle auf den Tischen. 

„Das Problem, dass Menschen aus ihrem Stadtteil verdrängt werden, ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen“

„St. Pauli wird gerne als Marke präsentiert. Der Kiez wandelt sich aber dermaßen, dass gar nicht mehr das geboten werden kann, was vermarktet wird“, so Steffen Jörg. Grund dafür ist für ihn die fortschreitende Gentrifizierung. Indem es immer hipper wird auf Pauli zu wohnen, werden die Mieten in die Höhe getrieben. „Das Problem, dass Menschen aus ihrem Stadtteil verdrängt werden, ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen“, so Steffen Jörg. Sylvia Griepentrog schätzt es, dass der reinlich gepflegte Vorgarten nicht das dringlichste Problem sei: „Das hier ist auch unser Stadtteil und wir wollen ihn mitgestalten und nicht nur gestalten lassen.“

Das 2014 ins Leben gerufene Business Improvement District (BID) reeperbahn+ sehen sie kritisch. Ziel des BIDs ist, laut Webseite, die Aufwertung St. Paulis als Vergnügungsstandort. Das BID generiert seine verfügbaren Gelder aus einer Abgabe, die jeder Grundeigentümer im Einzugsgebiet zahlt. „Das BID reeperbahn+ steht nicht für die Interessen der Anwohner ein, sondern für diejenigen der Grundeigentümer“, sagt Steffen Jörg.



Christoph Wilson
Christoph Wilson: „Ich will den Imbiss aus der Schmuddelecke holen.“ Foto: Philipp Jung
20 Uhr: Gastronom Christoph Wilson

Es ist Abendessenzeit auf dem Spielbudenplatz. Unter den Schirmen des Imbisses Heiße Ecke drängen sich die Hungrigen, draußen tobt der Hamburger Regen. Besitzer Christoph Wilson ist Österreicher und kommt, wie er selber sagt, aus der „Bonzen-Gastronomie“.

Vor 14 Jahren ist er auf St. Pauli hängengeblieben. „Ich mag die Ehrlichkeit, Offenheit und Gradlinigkeit des Kiezes. Hier kriegt jeder das, was er bestellt.“ In der Heißen Ecke ist das meist: ’ne Currywurst. „Ich will den Imbiss aus der Schmuddelecke holen“, so Wilson. Mit Wurstprobe um 7 Uhr morgens und selbst angemischter Currysauce sorgt er dafür, dass die Qualität stimmt.

Bei ihm sitzen St. Paulianer sowie Touristen am Tisch. Selbst gegen Junggesellenabschiede hat er nichts einzuwenden: „Der Kiez ist Hamburgs Auslaufzone für alle, die anders sind.“ Die Großveranstaltungen auf St. Pauli sieht er als Gastronom nicht als Problem, er profitiere ja davon.

Das nächste Projekt wird die Wiederbelebung des „Rundstück warm“

Die Besucher, welche der Stadtteil für wenige Tage aufnehmen muss, sprechen für sich: zum diesjährigen Hafengeburtstag über 1,5 Millionen, zum jüngsten Schlagermove 400.000 und zu den Cruise Days 2015 570.000. Die Harley Days, die letztes Jahr 400.000 Besucher angezogen haben, fanden dieses Jahr das erste Mal nicht mehr auf St. Pauli statt, sondern auf dem Hamburger Großmarkt.

Christoph Wilson stören weniger die Touristen, mehr die Leute, die herziehen weil es „in“ ist. „Ich warte schon darauf, dass irgendjemand die Polizei ruft, weil die Queen Mary zu laut tutet“, sagt er lachend.

Vor der Eröffnung der neuen Heißen Ecke hat er sich gut eingelesen in die Geschichte des legendären Imbisses, der bis in die 90er an der Ecke Reeperbahn/Hein-Hoyer-Straße stand. Das nächste Projekt wird die Wiederbelebung des „Rundstück warm“, ein Imbiss bestehend aus Brötchen, Braten und Bratensauce.

Das „Rundstück warm“ soll von Wirt Heinrich Heckel in seinem Bierhaus an der Ecke Reeperbahn/Hamburger Berg (heutiges Kasino) erfunden worden sein. Die Entstehung ist wie so oft dem Zufall geschuldet: Hungrige Gäste und keine Köchin resultierten in einer Improvisation namens „Rundstück warm“. „Die alten Speisen und ihre Geschichten dürfen nicht vergessen werden“, sagt Christoph Wilson.

Er denkt aber auch über die Stadtteilgrenzen hinaus. Demnächst wird es die Currywurst „Heiße Ecke“ in Shanghai zu kaufen geben.

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