24.05. | Literatur | Ach, Virginia | Michael Kumpfmüller

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Kritik

Am 28. März 1941 stopft sich Virginia Woolf Steine in ihre Manteltaschen und steigt in den Fluss nahe ihrem Haus. Was davor geschieht, weiß man nicht. Genau dies will Michael Kumpfmüller ergründen, oder eher: Wie es in ihrem Kopf aus­ gesehen haben könnte. In „Ach, Virginia“ erzählt der Berliner Schriftsteller – teilweise von be­zeugten Geschehnissen unter­ füttert, teilweise fabulierend und mit Anspielungen auf Woolfs Leben und Werk geschmückt – von den letzten zehn Tagen der großen Schriftstellerin.

Woolf lebt mit ihrem Mann Leonard zurückgezogen in einem kleinen Dorf im Südosten Englands. Über ihnen fliegt die deutsche Luftwaffe ihre Bombenangriffe auf London. Erschwerend zur äußerlichen Bedrohung kommt Woolfs innere Krise hinzu, ihre Depression ergreift immer mehr Besitz von ihr, sie hört Stimmen, kann nicht mehr schreiben, ist kraftlos.

Kumpfmüller erzählt in der dritten Person im Stil eines Bewusstseinsstroms, der Woolfs Erzähltechnik nachempfunden ist und mitunter gelungen ihre nicht­linearen Gedankensprünge verdichtet: „Ach, wie herrlich, es wird Frühling, sollte sie sich jetzt doch sagen, und wirklich sagt sie sich etwas in der Art und hat wiederum nicht die geringste Empfindung dabei.“

Nur: Warum verkitscht der Autor eine Ikone der modernen Literatur mit Todessehnsuchtsromantik der abgedroschenen Sor­te: „Sie möchte dem Fluss eine schöne Geliebte sein, jung und geschmeidig; sie möchte, dass er sie sieht und birgt, nackt und entgegenkommend, wie sie jetzt ist. Ja, Liebster, sagt oder flüstert sie, so man wortlos flüstern kann, und man scheint es zu können.“

In einem Interview sagte Kumpfmüller, er sehe in der Ich­-Sucht eines der Probleme der westlichen Gesellschaften, „dass das Ich am Ende in einen leeren Verzweiflungszustand führt“. Entsprechend schildert er Woolfs Depression als eine Hölle der Egozentrik: „Dieses ewige Kreisen um sich selbst ist lächerlich […] Es fällt ihr nichts Neues mehr zu sich ein, und deshalb wird sie nicht mehr schreiben, da man im Grunde ja immer bloß über sich schreibt, auch wenn man über Gewitter in einem Garten schreibt.“ Es ist genau andersherum: Große Schriftsteller schreiben nie bloß über sich selbst, auch wenn sie sich autobiografischer Elemente bedienen. „Objektiviere die Höl­le“, schrieb der Schriftsteller Alfred Kubin. Warum ausgerechnet Woolf für das Gegenteil davon stehen soll, bleibt un­ klar.

/ Ulrich Thiele

Michael Kumpfmüller: „Ach Virginia“, KiWi, 240 Seiten, 22 Euro


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24. Mai 2021
10:37
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