10.05. | Literatur | Die Unschärfe der Welt | Iris Wolff

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Kritik

/ Ingrun Gade

Ein ganzes Leben kann nicht in wenige Sätze gepresst werden, stets werden Widersprüchlichkeiten und Lücken entstehen. Doch genau dieser Uneindeutigkeit entspringt eine Freiheit: „Sprache konnte nie mehr sein als ein Anlauf zum Sprung.“ Die mehrfach ausgezeichnete Iris Wolff beschreibt in „Die Unschärfe der Welt“ auf wunderbare Weise die Geschichte einer Familie aus dem Banat.

Iris-Wolff-CoverÜber vier Generationen hinweg begleitet der Leser die sieben Protagonisten durch die geschichtlich bedeutsame Zeit des 20. Jahrhunderts und die damit einhergehenden politischen Veränderungen. Dabei sind alle Geschichten miteinander verwoben, keine Biografie steht für sich. Jede Geschichte beginnt mit einer Momentaufnahme, sodass man nicht nur liest, sondern sogleich in eine Szene geworfen wird, die so gestochen scharf geschrieben ist und mit einer unsäglichen Liebe zum Detail, dass einen schon die ersten Seiten verzaubern. Die gebürtige Siebenbürgerin lässt Pausen und beendet Geschichten dort, wo nur die eigene Fantasie ergänzen kann und so die Schönheit der Bilder vervollkommnet.

An Wolffs sensibler Schreibweise wird rasch die Zuneigung zu ihren Figuren deutlich, deren Identitätsfrage durch die eigene Migrationsgeschichte stärker im Vordergrund steht. Es wird ersichtlich, dass Identität nicht von Anfang an bestimmt ist, sondern dass sie erst durch die äußeren Umstände entsteht, durch die Landschaften, die Politik sowie das soziale Umfeld – dies zeigt sich stilistisch etwa in Samuels Geschichte, die als einzige nicht aus seiner Perspektive erzählt wird, sondern aus den anderen hervorgeht.

Der Roman handelt von Flucht und unterschiedlichen Mentalitäten, von Liebe, dem Ausmaß von Entscheidungen, von Neuanfängen, Freund- schaft sowie Verlust. Iris Wolff begeistertmitihrerüberauspoe- tischen, bildhaften Sprache. Mit leichter Hand und aus einer tie- fen Ruhe heraus hat sie ein Buch geschaffen, in dem Sätze wie die- ser nicht die Ausnahme, son- dern die Regel sind: „Die Erin- nerung ist ein Raum mit wan- dernden Türen. Manchmal trifft dich der Schatten eines Berges, manchmal ein Wort. Du gehst einen Hügel hinauf, trägst einen Korb Äpfel, wäschst das Haar, und mit einem Mal öffnet sich eine Tür. Eines Morgens dann willst du nicht mehr aufstehen, hast zu nichts mehr Lust. Weil die Erinnerung reicht.“

Iris Wolff: „Die Unschärfe der Welt“, Klett-Cotta, 215 Seiten, 20 Euro


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10. Mai 2021
10:39
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