Theaterkritik: Identitäten und eine Strafverteidigerin

Im St. Pauli Theater wird in „James Brown trug Lockenwickler“ die Frage nach Identität gestellt, als der junge Jacob glaub, sich in Celin Dion verwandelt zu haben. Und in den Hamburger Kammerspielen zeigt Katharina Schüttler „Prima facie“ ihre ganze Klasse
Strafverteidigerin wird zur Anklägerin: Katharina Schüttler als Tessa Jane Ensler in „Prima facie“ (©Bo Lahola)

„Prima facie“: In den Klauen des Rechtssystems

Ihre Rosshaarperücke, traditionelles Attribut der Richter und Anwälte im Britischen Empire, trägt die Strafverteidigerin Tessa Jane Ensler (Katharina Schüttler) heute nicht. Dabei ist die Verkleidung Teil des juristischen Systems, an das sie felsenfest glaubt. „Das System kann nur funktionieren, wenn wir alle unsere Rollen spielen“, erklärt Tessa, die Heldin des Monodramas „Prima facie“ ihr Selbstverständnis. Ihre Auftritte im Gerichtssaal meistert sie stets mit Bravour. Ebenso ausgezeichnet gelingt Schüttler die Verkörperung der Karrierefrau jetzt an den Hamburger Kammerspielen.

Der von der australischen Dramatikerin und Ex-Anwältin Suzie Miller verfasste, 2019 in Sydney uraufgeführte Monolog verlangt viel von der Darstellerin. Allein auf der kahlen, ganz in Orangerot gehaltenen, gestuften Bühne (Jonas Vogt) erzählt Tessa knapp zwei Stunden lang vom Alltag am Gericht, wo sie Sexualstraftäter knallhart verteidigt. „Es gibt keine objektive Wahrheit. Nur die juristische“, doziert die Anwältin. Will heißen: Das Gesetz schützt den Angeklagten und die Unschuldsvermutung gilt so lange, bis die Schuld rechtskräftig bewiesen wurde. Den moralischen Aspekt dieses „Prima facie“ erkennt Tessa erst, als sie selbst zum Opfer wird. Ein Kollege, mit dem sie eine Affäre hat, vergewaltigt sie, während beide betrunken sind. Sorgfältig arbeitet die Regisseurin Milena Mönch den Bruch in Tessas Monolog heraus: Die Selbstgewissheit vor und die Erschütterung nach dem – im Stück detailliert geschilderten – Übergriff. Schüttler gibt eine anfangs stolz und siegessicher, später verzagt und zittrig agierende Frau, der die Glaubwürdigkeit abhandenkommt. Aus Erfahrung weiß Tessa, dass ihre Chancen schlecht stehen, dennoch erstattet sie Anzeige, wechselt die Seiten und stellt sich dem System – ohne Perücke – als Anklägerin.

„Prima facie“ läuft noch bis zum 6. März 2024 in den Hamburger Kammerspielen

„James Brown trug Lockenwickler“: Jedem seine eigene Macke

Therapieren oder tolerieren? – Jacob (Denis Svensson) glaubt, er sei Céline Dion (©Stephan Wallocha)

Manchmal werden Pflanzen schief, wenn sie sich lange zu einer Seite, zur Sonne neigen. Dann müsste man sie umdrehen, damit sie wieder gerade wachsen. Gilt das auch für Menschen? Müssen sie ebenfalls umgedreht werden, um wieder in die Spur zu kommen? Yasmina Rezas jüngstes Drama ist reich an poetischen Metaphern dieser Art und zugleich ein ebenso tiefgründiger wie unterhaltsamer Kommentar zur aktuellen Diskussion um Identitäten.

„James Brown trug Lockenwickler“ erzählt nichts vom US-amerikanischen Musiker im Titel, sondern von einer französischen Familie. Als Fünfjähriger ist Sohn Jacob ein Fan von Céline Dion, als Jugendlicher dann davon überzeugt, sich in die kanadische Sängerin verwandelt zu haben. Als er mit blonder Langhaarperücke zu Konzerten einlädt, lassen die Eltern ihn in eine psychiatrische Klinik einweisen. Dort sieht das Therapiekonzept der behandelnden Ärztin vor, diese Wahnvorstellung zu akzeptieren, was sie auch von den Eltern erwartet. Doch damit sind die beiden überfordert: Der Vater will seinen Sohn zurück, die Mutter versucht es mit vorgetäuschtem Verständnis.

Dass sich Jacob in der Klinik mit einem jungen, hellhäutigen Mann anfreundet, der überzeugt ist, ein Schwarzer zu sein, gießt Öl ins Feuer der skeptischen Eltern. Auch das persönliche Geständnis der Psychiaterin, dass sie es beim Autofahren grundsätzlich vermeidet zu bremsen, wirkt insgesamt wenig vertrauensbildend. Und so kommen allmählich die individuellen Macken aller Beteiligten zum Vorschein. Die Grenze, welche von diesen Verhaltensabweichungen noch gesellschaftlich tolerabel sind und ab wann sie als pathologisch gelten, lässt Reza in ihren klugen Dialogen verschwimmen. Regisseur Ulrich Waller setzt das fünfköpfige Ensemble mit einem untrüglichen Gespür für die Nuancen des Textes in Szene. Großartig: Dennis Svensson, der Jacob/Céline mit lässiger Selbstverständlichkeit verkörpert.

„James Brown trug Lockenwickler“ ist noch bis zum 16. März im St. Pauli Theater zu sehen

Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG 03/2024 erschienen, dort finden sich noch mehr aktuelle Theaterkritiken.

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