Die Band, die sich bisher so schwertat, etwas Persönliches preiszugeben, veröffentlicht plötzlich ein autobiografisches Album: „Die Unendlichkeit“. Warum, wieso, weshalb: ein Gespräch mit Sänger und Gitarrist Dirk von Lowtzow.
SZENE HAMBURG: Dirk, über das neue Tocotronic-Album „Die Unendlichkeit“ habt ihr als Band bereits festgehalten: „Mit ganz einfachen Worten, offen und ungepanzert, berichten wir über uns selbst.“ Wie würdest du diese vorherigen „Panzer“ denn beschreiben? Und: Fiel es schwer, sie abzulegen?
Dirk von Lowtzow: Ich denke, man trägt zunächst immer eine Art Körperpanzer mit sich herum, wenn es um persönliche, autobiografische Themen geht. Man will sich schützen, wenig von sich preisgeben. Man sucht nach einer gewissen Distanz. Nicht zuletzt auch zu sich selbst. Im autobiografischen Schreiben für das Album musste ich diese Distanz zu mir selber überwinden, was teilweise eine sehr verstörende, im Großen und Ganzen aber spannende Erfahrung war. Die Entscheidung, für das Album autobiografische Lieder zu schreiben, erforderte auch eine Entscheidung in der Form: Während wir mit Tocotronic bei vorherigen Alben oft nach abwegigen Konstruktionen gesucht haben, um etwas von uns preiszugeben, haben wir hier die Einfachheit gesucht, weil wir wussten, dass in ihr eine große Kraft steckt.
Geführt hat diese Öffnung zu Liedern, die von nicht weniger als Angst, Liebe, Einsamkeit und Tod handeln. Welches Thema hat beim Songschreiben am meisten von dir abverlangt?
Der Song „Unwiederbringlich“, der vom angekündigten Tod meines ältesten Jugendfreundes handelt, war sicherlich der am schwersten zu schreibende Song. Das hat viel Kraft gekostet und ich habe mit Jan Müller, der ein hervorragender Lektor ist, um jedes Wort gerungen.
Es geht nun auch um deine Zeit vor Hamburg: Ums Außenseiterdasein, Beleidigungen, Flucht. Rückblickend: Welche Lebenslektionen musstest du in deiner Jugend lernen?
Ich bin recht behütet in der westdeutschen Provinz der siebziger und achtziger Jahre aufgewachsen, war als Kind sehr fantasievoll und kreativ, aber auch ein Angsthase. Ich habe früh gelernt, dass ich nicht in die auf Stärke und Dominanz ausgerichtete Welt meiner männlichen Mitschüler passe. Außerdem hatte ich ein frühes Faible für modische Extravaganzen, weshalb ich oft Beleidigungen und Bedrohungen ausgesetzt war, wenn ich durch die Fußgängerzone stolzierte (lacht). Diese Erfahrung haben wir alle in der Band gemacht, selbst Rick drüben in Maine, so kam es zu dem Lied „Hey Du“.
Wann war die erwähnte Flucht unausweichlich? Und warum fiel die Wahl auf Hamburg?
Mein großer Traum war es schon als Jugendlicher, in einer Rockband zu spielen, das gestaltete sich in der Provinz aber sehr schwierig. Hamburg war mein absoluter Sehnsuchtsort, da ich die ersten Alben der Bands der „Hamburger Schule“ kannte. Ich war Fan von „Capt. Kirk &“, der „Kolossalen Jugend“ und „Huah!“ Als ich durch einen Zufall Jan Müller kennenlernte und durch ihn Arne Zank und wir durch die Bandgründung diesen Zufall sozusagen fixierten, war mein Traum endlich Wirklichkeit geworden. Das hätte zu diesem Zeitpunkt nur in Hamburg passieren können.
Habt ihr euch als Tocotronic auch sofort gut aufgehoben gefühlt in der Hamburger Musiklandschaft? Oder war eure Szene vergleichsweise klein und das Gefühl des Andersseins auf neue Weise wieder sehr präsent?
Die Hamburger Musikszene zu jener Zeit hatte eine eigene Strenge, eine eigene Härte, die sich zum großen Teil noch einem sehr maskulinen 80er-Jahre-Weltbild verdankte, gewürzt mit einem Schuss Ironie und einem Spritzer Ideologie. Es war ein bisschen wie eine außerinstitutionelle Akademie. Oft war ich als etwas zu gefühliger süddeutscher Indieboy mit einer Schroffheit konfrontiert, die ich so vorher nicht kannte. Aber es war eine gute Ausbildung (lacht).
Was meinst du, welche Denkweise oder auch Bandphilosophie euch karrieretechnisch vorangebracht hat? Ein schlichtes Sich-niemals-Verbiegen-lassen? Oder gab es mehr als eine Regel, die ihr euch auferlegt habt? Oder aber: gar keine Regel?
Ich glaube, wir sind ein ziemlich schrulliger Haufen. Bei uns ist in mancherlei Hinsicht, auch karrieretechnisch, Hopfen und Malz verloren.
Ein weiteres Thema auf „Die Unendlichkeit“: Hoffnungen. Welche haben sich denn in Hamburg für dich voll und ganz erfüllt?
Ich bin Musiker geworden. Und ich habe in Hamburg Jan, Arne und später Rick kennengelernt, und darf mit ihnen im Kollektiv arbeiten. Es klingt ein bisschen kitschig, aber ich bin darüber sehr glücklich und meine Hoffnungen haben sich dadurch erfüllt. Ich finde es nachgerade ein Politikum, dass es diese Band nach 25 Jahren noch gibt und wir mit der Gruppe immer genau das machen konnten, was wir wollten. Das ist heutzutage keine Selbstverständlichkeit mehr. Mit Klick-Zahlen kann man leider keine Diskurse führen. Man fühlt sich demgegenüber manchmal ein bisschen wie ein alter Freibeuter. Das passt ja wiederum ganz gut zu Hamburg (lacht).
Nicht ganz unspannend am Ende: Würdest du es noch mal genauso machen? Noch mal nach Hamburg flüchten?
Ja, selbstverständlich.
Könntest du dir auch eine Rückkehr nach Hamburg aus Berlin vorstellen?
Im Augenblick ehrlich gesagt nicht, denn ich fühle mich in Berlin sehr geborgen. Aber man soll ja nie „nie“ sagen. Eine steife Hamburger Brise kann ja ganz wohltuend sein.
Interview: Erik Brandt-Höge
„Die Unendlichkeit“ erscheint am 26.1. (Vertigo Berlin/Universal); 16.3., Große Freiheit 36, 19 Uhr
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Dieser Text ist ein Auszug aus SZENE HAMBURG, Januar 2018. Das Magazin ist seit dem 22. Dezember 2017 im Handel und zeitlos in unserem Online Shop oder als ePaper erhältlich!