Wilhelmsburg: Die historischen Zinnwerke konnten in letzter Sekunde vor dem Abriss bewahrt werden. Nun will die Stadt eine kreative Nutzung ausloten
Man kennt das aus der Pädagogik – wenn zu viele Erwartungen auf einem Kind liegen, es permanent beobachtet wird, dann kann es sich nicht entfalten. In diesem Beispiel ist Wilhelmsburg das Kind. Eines, dass nicht so erfolgreich ist wie die Geschwister. Sein Erzie- hungsberechtigter, die Stadt Hamburg, will das nun ändern. Sie peitscht es an, zwängt es in Rollen, in die es nicht hineinpasst. Und da sitzt das kleine Wilhelmsburg nun an der Elbe und ist verunsichert, wer oder was es werden soll.
Monate nach Abschluss von Bauausstellung (IBA) und Gartenschau (igs) ist völlig unklar, in welche Richtung sich der Stadtteil entwickeln wird. Geschäfte und Lokale schließen wieder, deren Inhaber vom mittelständischen Aufschwung des Viertels geträumt hatten. Sie stellen ernüchtert fest: Nur wenige, die hier wohnen, können es sich leisten, essen zu gehen, und das entstandene IBA-Neubauviertel wirkt wie ein Fremdkörper. Es bleibt die Erkenntnis: Stadtplanung am Reißbrett macht noch kein lebendiges Quartier.
Oft bietet sich durch die Subkultur eine Chance, einen Stadtteil bunt und interessant zu gestalten. Und tatsächlich wachsen hier und da zarte Pflänzchen in Wilhelmsburg, die seit Jahren größer werden und Wurzeln schlagen. Auf einigen trampelte man in der Vergangenheit noch herum. Dazu gehörte die Soulkitchen-Halle. Man hielt sie wohl für Unkraut und ignorierte, was für schöne Blüten sie trug. Die Wilhelmsburger Zinnwerke am Veringhof sind ein ebenso gutes Beispiel.
Die 1903 errichteten Industriehallen, die heute der städtischen Sprinkenhof GmbH gehören, standen lange leer. Vor einigen Jahren siedelten sich Kreative in einem kleinen Teil der historischen Gebäude an. Im Jahr 2013 hieß es dann, dass die Zinnwerke abgerissen werden sollen, um einem Neubau des Opernfundus zu weichen. Der Entschluss stand bereits fest, die Mieter waren empört und kämpften, unterstützt von der Nachbarschaft, dagegen an. Mit Erfolg: Der Beschluss wurde gekippt und der Standort des Opernfundus nach Rothenburgsort verlegt.
An vorderster Front trat damals Marco Antonio Reyes Loredo in Aktion. Der Halb-Bolivianer wohnt seit 2007 in Wilhelmsburg und ist mit seiner Filmproduktionsfirma „Hirn und Wanst“ Mieter des ehemaligen Maschinenhauses der Zinnwerke. „Während der Verhandlungen sagte jemand, er habe erst zweimal erlebt, dass so ein Beschluss in Hamburg abgewendet wurde, bei der Hafenstraße und beim Gängeviertel.“ Und nun die Zinnwerke.
Sie durften also bleiben. Unklar war jedoch, was mit der 2.800 Quadratmeter großen ehemaligen Produktionshalle passieren sollte, die nach wie vor nicht für eine Nutzung freigegeben war. „Das ist absurd.Wir platzen in dem von uns angemieteten Areal aus allen Nähten, bauen Toilettenanlagen zu Ateliers um und nebenan liegt jahrelang diese riesige Fläche brach“, so Reyes Loredo.
Dies soll sich nun ändern. Das Jahr 2014 endet mit der Nachricht, dass die Hamburger Kreativgesellschaft die Hallen mieten will, um das Potenzial für eine umfassende kreative Nutzung auszuloten. Zwölf Monate soll die Testphase dauern. In Zusammenarbeit mit „Hirn und Wanst“ werden Projekte ausgewählt, die zwischen einem Tag und acht Wochen die Räumlichkeiten der Zinnwerke nutzen können. Theateraufführungen, Designmärkte, Konzerte – alles ist möglich. Hat ein Projekt unkommerzielle Ziele, zahlen die Initiatoren weniger als die große Produktionsfirma,die hier einen neuen „Tatort“ drehen möchte. Das Konzept erinnert an die Halle 4 im Oberhafen, die ebenfalls durch die Kreativgesellschaft verwaltet wird.
Startschuss für einen Teil des Projekts war der 1. Februar. Dann zog der monatlich stattfindende FlohZinn in die Hallen – ein Kulturflohmarkt, der seit Juni 2014 auf dem Gelände der Zinnwerke stattfindet und sich großer Beliebtheit erfreut. Auch hier tritt Reyes Loredo als Veranstalter auf. Er spricht noch von einem Startschuss mit Handbremse.
„Für den Flohmarkt haben wir eine Sondergenehmigung.“ Die allgemeine Nutzungsänderung müsse noch von der Bezirksversammlung Hamburg-Mitte durchgewunken werden. Es werde ermittelt, welche Auflagen die Bauprüfer festlegen und welche Kosten entstehen. Die Sprinkenhof GmbH soll sich an der Instandsetzung der sanierungsbedürftigen Hallen beteiligen. Zudem sollen die Einnahmen der Testphase in Renovierungsarbeiten fließen.
Alles sieht danach aus, dass man endlich die Talente des kleinen Wilhelmsburg erkennt und fördert. Auch, weil Bezirksamtsleiter Andy Grote ein Befürworter des „Kulturkanals“ ist und unter Zugzwang steht. Er sprach bereits 2013 davon, dass am Veringkanal eine Kreativmeile entstehen soll mit Ateliers, Proberäumen und Musikclubs. Bisher beobachtet man jedoch eher Stillstand als Aktionismus von Seiten der Politik.
„Die Zinnwerke können zum Schaufenster für den Kulturkanal werden“, glaubt Reyes Loredo. Er begreift das Projekt als Möglichkeitsraum mit guten Chancen auf Nachhaltigkeit. Der Kampf gegen den Opernfundus habe die Wilhelmsburger zusammengeschweißt. Man spreche miteinander, die Kreativszene mit den Bewohnern und den ansässigen Wirtschaftbetrieben. „Hier soll niemand verdrängt werden, sondern in Komplizenschaft etwas Gutes entstehen.“
Von der Aufbruchstimmung kann man sich im Februar selbst überzeu- gen, wenn der FlohZinn erstmals mit einem Dach über dem Kopf stattfindet. Die Nachbarschaft kommt hier zusammen und Besucher vom Festland. Der Comicbus fährt vor, Peter Falke, Hüter des Archivs der Wilhelmsburger Zeitung, öffnet gegen Spende seinen Fundus, dMusiker spielen auf Ukulele, Gitarre und Co. und man kann bei der Wilhelmsburger Plattenverkostung von Wolfgang Strobl Vinylschnäppchen machen. Das Kind hat eine Zukunft!
Text: Lena Frommeyer
Fotos : Jonathan Miske, Benno Tobler
Wilhelmsburger Zinnwerke
Am Veringhof 7 (Wilhelmsburg)
FlohZinn: jeden 1. Sonntag im Monat
Dieser Text stammt aus der Februar-Ausgabe von SZENE HAMBURG. In der aktuellen Juni-Ausgabe berichtet Autorin Stefanie Maeck über die Zukunft der Soulkitchen-Halle als Herz des Soulvillage.
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