Nach dem Abi nach Lateinamerika: Der Hamburger Elvis Jarrs leistet Freiwilligendienst in Costa Rica und berichtet über gelassene Ticos und große Rammstein-Fans
Es ist später Nachmittag, wir sitzen in einem Park mitten in San José direkt vor der Kathedrale. Um uns herum: viel Beton und einige Grünflächen. Chipstüten haben sich im Geäst der wenigen Büsche verfangen. Breakdancer trainieren mit Kopfhörern auf einer Plattform, Wellensittiche fliegen von Palme zu Palme. Marktgeschrei dringt herüber. Ich beiße in meinen Churro und bin etwas neidisch auf Jannos‘ Freizeit. Der hatte gerade lachend erzählt: „Da sitzen wir also, drei Abiturienten aus Deutschland, und tackern eine halbe Stunde lang Zettel aneinander. Das ist alles was wir den ganzen Tag gemacht haben.“
Wie viele der anderen Freiwilligen hat Jannos in seinen ersten beiden Arbeitswochen in Costa Rica nicht wirklich Verwendung in seinem Projekt gefunden. Aufsicht in menschenleeren Bibliotheken führen, Gymnastikbälle abstauben, Dokumente abstempeln, einige aus der Freiwilligengruppe haben zum Einstieg klassische Praktikantenjobs erledigen müssen und sind die meiste Zeit beschäftigungslos. Aus Langeweile hat Jannos mit seinen drei deutschen Kollegen begonnen, während der Arbeit mit dem Smartphone russisch zu lernen.
Bei mir ist das anders. Ich arbeite in einem Zentrum für Kinder (bis 6 Jahre) im Zentrum der Hauptstadt, jeden Tag von sieben Uhr morgens bis zwei Uhr am Nachmittag. Obwohl ich mich nicht unbedingt auf die Arbeit mit kleinen Kindern beworben habe, war ich richtig glücklich, als ich meine Projektzusage erhielt. Auch heute freue ich mich jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit auf die Kinder, steige in San José aus dem Bus in das erste Licht des Tages und passiere beschwingten Schrittes den gemächlich erwachenden Schwarzmarkt im Stadtzentrum. Nach den ersten fünfzehn Minuten fällt mir dann meistens wieder ein, warum ich jeden Nachmittag mindestens zwei Stunden Schlaf brauche.
Mein Zentrum wird ausschließlich von Frauen betrieben und man merkt, wie sehr sie an den Kindern hängen. Auch ich habe sie vom ersten Tag an in mein Herz geschlossen und sie seitdem nicht wieder hinausgelassen, auch wenn sie sich des Öfteren sehr zu bemühen scheinen, endlich daraus befreit zu werden. Sei es, dass einige von ihnen klare Anweisungen („Wirf nicht mit Reis!“) höchstens als gutgemeinte Empfehlungen verstehen, sei es, dass die Jüngeren mir durch die Windel auf das T-Shirt kacken, wenn ich sie beruhigend im Arm halte.
Geschenkt. Wenn sie morgens beim Öffnen des Hoftors „Muchacho!“ rufend auf mich zurennen und mein Bein umarmen, was ist da schon ein T-Shirt? So sehr ich mich mitunter danach sehne, wieder mit Erwachsenen arbeiten zu können – es hätte mich wesentlich schlimmer treffen können. Und dieses Tackern habe ich schon beim Bastelkurs in der dritten Klasse nicht wirklich gekonnt.
Auch mit meinen Gasteltern habe ich großes Glück gehabt. Beide sind jung und unternehmen viel, außerdem sind sie sehr umsichtig und lassen mir alle Freiheiten. Wir leben in einem kleinen Haus mit zwei Geschossen in einem Vorort von San José in einer mittelständisch-verschlafenen Nachbarschaft. Er ist Ingenieur, sie Lehrerin. Wie alle männlichen Ticos (Begriff für Costa-Ricaner) ist mein Gastvater großer Rammstein-Fan und hat seit meiner Ankunft begonnen, einige deutsche Phrasen zu lernen. Seit einer guten Woche werde ich jeden Morgen um fünf zum Frühstück mit einem immer akzentfreier werdenden „Güten Morgen“ begrüßt.
Bis auf die musikalische Affinität für deutschen Rock unterscheidet sich meine Familie in einem Punkt von denen der anderen Freiwilligen, sie sind ausgesprochen umweltbewusst. Es hat mich zu Beginn etwas überrascht, wie wenig Umweltbewusstsein in Costa Rica herrscht, einem Land, das 27 Prozent seiner Fläche unter Naturschutz stellt, dem Land, das zu 100 Prozent von erneuerbarer Energie lebt. In der Praxis macht sich das nicht bemerkbar, Brötchen beim Bäcker werden in Plastiktüten verpackt, die Flüsse jenseits der Nationalparks sind voller Müll.
Abgesehen davon ist Costa Rica ein beeindruckendes Land und es ist faszinierend zu erleben, wie das in jedem Touristenführer zitierte „Pura Vida“ in den Augen eines Ankommenden von einer anfänglich gesichtslosen Phrase zu einer Beschreibung für das hiesige Lebensgefühl wird. Ich beginne langsam nachzuvollziehen, warum es gerade in Costa Rica nie wirklich Krieg gegeben hat, warum gerade dieses Land sich vor Jahren entschied, sein Militär abzuschaffen. Hier wird alles tatsächlich gelassener genommen.
Auch ich werde mich entspannen müssen, sollte ich doch mal etwas neidisch auf die wachsenden Russichkenntnisse der anderen Freiwilligen werden, oder wenn ich beiläufig feststelle, dass der braune Fleck auf meinem T-Shirt trotz zweimaliger Wäsche noch deutlich sichtbar ist. Wenigstens tue ich in meinem Projekt etwas Sinnvolles, Russich kann ich auch in Hamburg studieren. Jetzt lieber richtig Spanisch lernen.
Text: Elvis Jarrs