Die Seefahrer-Romantik, die Mär vom tätowierten Matrosen, ist längst der harten Realität eines globalen Wirtschaftssystems gewichen. Dem einzelnen Seefahrer Anerkennung zu schenken, ist Teil der Arbeit der Deutschen Seemannsmission Altona e.V.
Von Regine Marxen / Fotos: Philipp Jung (Porträts) /REM
Es ist ein Kampf gegen die Isolation. „Soziale Vereinsamung ist ein großes Problem an Bord“, sagt Sturm. Wir sitzen im Speisesaal der Deutschen Seemannsmission Hamburg-Altona e.V.. Von der Decke hängen rote Lampions mit chinesischen Schriftzeichen, durch das Fenster blicken wir über die Große Elbstraße hinweg auf den Hafen und die Kräne, die im Dunst von Nebel und Schnee versinken. Im Haus herrscht Ruhe, nur aus der Küche nebenan dringen Geräusche. Fiete Sturm, 35 Jahre alt, kommt eigentlich aus Bielefeld. Seit eineinhalb Jahren leitet er die Seemannsmission in Altona. Er erinnert sich noch gut an seinen ersten Tag in diesem Seefahrerhotel. Da sei es ähnlich ruhig gewesen und er hätte sich gefragt, wo denn tagsüber die Seeleute wären. Heute weiß er: Sie schlafen noch. Denn die meisten von ihnen leiden am Jetlag, sind erst spät am vorangegangenen Abend oder früh in den Morgenstunden eingetroffen, um dann wenige Stunden später an Bord ihres Schiffes ihren Dienst zu beginnen. „Die Seefahrt ist ein durchökonomisiertes System, da passiert alles just in time. Die Reederei bucht die Unterkunft, lässt den Matrosen kurz vorher einfliegen oder sorgt für den Shuttle vom Schiff zu uns, und meistens geht es am nächsten Tag, wenige Stunden später, bereits wieder an Bord.“ Er hält kurz inne und fügt dann lächelnd hinzu: „Der bärbeißige tätowierte Seemann, der sich in den Wind stellt und an Land die Kieze unsicher macht, den gibt es nicht mehr. Das da draußen ist eine reine Industrie.“
40 Zimmer und rund 80 Betten bietet das Haus und es verfügt zusätzlich über Freizeiträume mit Billardtisch und Playstation sowie über einen Club im Souterrain mit 24-stündigem Barbetrieb. Die Hotelzimmer sind solide und stellen bei einem Preis von 40 Euro pro Nacht und Bett eine kostengünstige Alternative zu anderen Hotels in der Stadt dar. Seit 85 Jahren existiert die Institution an diesem Standort – und ist damit so alt wie das Gebäude, das sie beherbergt. „Übernachten ist das eine, aber wir bieten vor allem den sozialen Service. Unsere Aufgabe ist es, den Seeleuten das zu geben, was sie brauchen“, sagt Fiete Sturm. Und das sei vor allem eines: Raum, sich als Mensch zu fühlen. „Man muss sich das mal vorstellen: Die ganz großen Schiffe, die hier einlaufen – 400 Meter lang, 60 Meter breit, bis zu 20.000 Container darauf, das sind schwimmende Städte. Da arbeiten 18 bis 20 Leute drauf, und das in zwei bis drei Schichten. Die sehen sich kaum. Oftmals, wenn die Reedereien nicht darauf achten, sind die Crews international bunt gemischt, Afrikaner, Inder und Filippinos treffen aufeinander. Es fehlt ein soziales Gefüge. Das entfremdet die Menschen.“
Lothar Heinken-Schmitz, der 60-jährige Bufdi im Haus, bezeichnet die Seeleute als „die Vergessenen“. „Man zählt die Schiffe und die Container. Aber wer zählt die Menschen, die auf diesen Schiffen sind?“, fragt er. Heinken-Schmitz ist selber zur See gefahren, damals in den 70er Jahren. Oft war er als Matrose in Hamburg in der Seemannsmission zu Gast; den Club und die Bar kennt er noch aus dieser Zeit. Heute steht er hier selber hinter dem Tresen. Seit August absolviert er sein soziales Jahr in dem diakonischen Verein.
„Das Ganze geht ja noch viel weiter. Vergessene Seeleute gibt es nicht nur an Bord der Containerschiffe, sondern auch auf den Kreuzfahrern. Diese schwimmenden Mc Donald’s-Schiffe, auf denen eine Schattengesellschaft herrscht. Wo 1.500 Menschen unsichtbar als Dienstleister arbeiten, kaum Freizeit haben und in Gruppenunterkünften unter Deck leben. Und an Land nur wenige Stunden Aufenthalt haben.“
Viele von ihnen besuchen die Seemannsmission, um bei ihm am Tresen rasch einzukaufen. Denn neben Getränken und Pizza sind dort Hygieneartikel und Snacks erhältlich. Guavensaft, getrocknete Fischstreifen und andere internationale Spezialitäten, die die Seeleute an Bord nur schwer erwerben können. „Ein Stück Heimat auf der Zunge“, erklärt Lothar Heinken-Schmitz.
„Das erste, was sich die Seeleute wünschen, wenn sie zu uns kommen, ist WiFi. Ich brauche mit einem Seelsorgegespräch gar nicht erst anzufangen, bevor nicht der Kontakt zur Familie hergestellt worden ist“, sagt Sturm. Oft erlebt er dabei berührende Momente. Einen von diesen hat er lange mit sich herumgetragen. „Ich hatte hier einmal einen Mann sitzen, einen Filippino, der weinte, weil zu Hause gerade sein drittes Kind geboren worden war. Das dritte Kind, bei dessen Geburt er weit weg von zu Hause war. Das hat mich stark getroffen, da musste auch ich erst drüber schlafen und die Situation annehmen.“
Erlebnisse wie diese sind es, die Fiete Sturm vor Augen führen, worum es in seinem Job überhaupt geht.
„95 Prozent der Warenwirtschaft läuft über die Containerschifffahrt. Wir profitieren alle davon. Ich freue mich auch, wenn über Amazon meine importierte Regenhose angekommen ist, wie heute morgen geschehen. Ich merke aber, wie wichtig es ist, mir bewusst zu machen, dass hinter dieser Maschinerie Menschen stehen, die eine wirklich schwere Arbeit machen und nicht gesehen werden. Unser Luxus hat einen hohen Preis für die Menschen.“
Gerade in der Weihnachtszeit drängt sich diese Erkenntnis auf, wenn der Konsum rollt und die Familie zusammenrückt.
„Viele Filippinos sind christlich katholisch, für die ist Weihnachten ein Thema. Da liegt der Gedanke nahe: Meine Familie ist zu Hause und ich bin hier und arbeite dafür, dass die westliche Welt ihre Geschenke unterm Baum hat.“
Für Fiete Sturm und seine Kollegen ist klar: Es ist wichtig, diesen Menschen das Gefühl zu vermitteln, dass sie nicht allein sind. Ihnen Anerkennung zu schenken, Respekt. Und ihnen eine Freude zu bereiten. Deshalb packen die Mitarbeiter der Mission im Vorfeld fleißig Weihnachtstüten, gefüllt mit Dingen, die auf See wirklich gebraucht werden. Niveacreme zum Beispiel. Oder Power Banks für die Smart Phones. Diese werden an die Gäste des Hauses verschenkt. Einen Teil der Tüten verteilt zudem das Team des Seemannsclubs Duckdalben am Heiligen Abend direkt auf den Schiffen.
In der Seemannsmission in der Großen Elbstraße wird es an den Weihnachtstagen eher ruhig zugehen. Große Feierlichkeiten oder Gottesdienste finden nicht statt. Auch wenn es im Haus im Erdgeschoss eine kleine Kapelle gibt. Darauf wird bewusst verzichtet. „Wir sind ein christlicher Verein, aber wir leisten keine Missionsarbeit“ sagt Fiete Sturm. „Wir heißen jeden willkommen, unabhängig von Religion, sexueller Gesinnung oder Herkunft. Wir verstehen Mission im ursprünglichen Sinne von ,gesandt sein‘. Es geht um das Zuhören, um Nähe. Der Mensch steht im Fokus, nicht unsere Religion.“
Dennoch: Für Fiete Sturm, Lothar Heinken-Schmitz und alle anderen Teammitglieder werden die Weihnachtstage eine besondere Zeit sein, in der es besonders wichtig ist, zuzuhören, in der ihre Gäste viel von daheim erzählen und Bilder ihrer Kinder zeigen werden. In der WiFi und Telefonkarten eines der größten Geschenke sind, die man diesen Menschen machen kann. Das Größte aber ist Aufmerksamkeit, das Gefühl, wahrgenommen zu werden, jenseits von der Funktion und den Automatismen auf hoher See.
„Jeder soll hier als der Mensch reinkommen, der er ist“, bringt Sturm es auf den Punkt. „Und vor allem: Er soll die Mission auch genau so wieder verlassen. Als Mensch.“
Info
Die Deutsche Seemannsmission Hamburg-Altona e.V. finanziert sich auch durch Spenden. Auch Kleiderspenden sind willkommen, denn oftmals sind die Seeleute nicht auf die kühleren Temperaturen vor Ort vorbereitet.
Spendenkonto
Hamburger Sparkasse
IBAN: DE42 2005 0550 1268 133 723
BIC: HASPDEHHXXXKontakt
Große Elbstr. 132, Telefon: 30 6 22 -0/11