Von Achtsamkeit bis Zigarette: Trendforscherin Judith Mair und Designerin Bitten Stetter schrieben das Zeitgeist-Lexikon „Moral Phobia“
Wäre „nett“ nicht die kleine Schwester von „scheiße“, wäre das netteste Detail an der Enzyklopädie „Moral Phobia“, dass sie das zentrale Merkmal einer Enzyklopädie unterwandert: Sie ist nicht so richtig alphabetisch geordnet. Auf „Feel Good Imperativ“ folgt „Fuck for forest“ folgt „Flexibler Normalismus“. Trendforscherin Judith Mair und die Hamburger Modedesignerin Bitten Stetter nervte die Nettigkeit der veganen, achtsamen Besserverdiener, die sich kritische Reflexion und Yoga auf die Fahnen schreiben, damit der Selbstoptimierungszwang biologisch abbaubar aussieht, und wollten ihr Vokabular entlarven.
Letztlich aber schwankt „Moral Phobia“ zwischen Hipster-Soziologie und Anleitungen zur Widerborstigkeit. Das ist eine hilflose Beschreibung, aber wie soll man ein Kompendium aus „Rechtsextremen Ökos“, „Helfies“ (=Selfies, auf denen Frauen unrasierte Beine zeigen), www.glutenfreesingles.com und dem Abfeiern von Pelz- und Champagnerkonsum auf den Punkt bringen? Richtig konsequent ist das nicht, und genau deswegen so charmant: Nichts gegens Mülltrennen und Nettsein an sich, aber so ganz ohne Scheiße macht das Dasein halt auch nur den halben Spaß.
Text: Hanna Klimpe
Das Buch erscheint bei Gudberg Nerger, einer Denkfabrik mit Shop in der Poolstraße 8 (Neustadt), der am 5.6. direkt neben dem Laden eine neue Galerie mit einer Collagen-Ausstellung von Dennis Busch eröffnet