Stress im Arbeitsalltag ist vielen nichts Unbekanntes – dabei ist Stress nicht immer ein Übel. Warum er auch ein Ansporn sein kann, erklärt Prof. Dr. Dr. Stephan Ahrens, medizinischer Leiter des Hamburger Fachzentrums für Stressmedizin und der Klinik Blomenburg in Selent
Interview: Sophia Herzog
SZENE HAMBURG: Stephan Ahrens, wann haben Sie sich das letzte Mal gestresst gefühlt?
Stephan Ahrens: Das ist etwa eine Woche her.
In welcher Situation war das?
Ich fühle mich gestresst, wenn sich Anforderungen ineinanderschie ben, die ich nicht erwartet habe, und die dann die Aufgabe mit sich bringen, mich wieder neu zu sortieren.
Was ist Stress denn überhaupt?
Stress ist immer die körperliche und psychische Reaktion auf eine Herausforderung. Viele nehmen Stress als etwas wahr, was sie vermeiden sollten. Dabei ist Stress etwas, das den Menschen guttut und sie beweglich hält, sowohl körperlich als auch geis tig. Druck kann auch ein Ansporn für höhere Leistung sein. Schwierig wird es nur, wenn wir Stress im Übermaß empfinden und die Passung zwischen dem Ausmaß einer Anforderung und der Fähigkeit, diese zu bewältigen, nicht mehr stimmt.
Stress ist also nicht immer nur schlecht.
Richtig. Ich finde, dass der arme Begriff mächtig überstrapaziert wird. Ich lebe aber auch davon, deshalb kann mir das eigentlich nur recht sein (lacht).
„Der arme Stressbegriff wird mächtig strapaziert“
„Ich habe gerade so viel Stress“ – das hören wir gefühlt immer häufiger. Warum beschweren wir uns denn so oft über Stress?
Stress ist total angesagt. Letztes Jahr habe ich in einem Wirtschaftsmagazin ein Interview zum Thema Burnout gegeben. In der Folge kamen ganz viele Manager zu mir und sagten: „Professor, schauen Sie mal, ich habe so viel Stress, ich habe doch einen Burnout“. Sie wollten eine Art Orden von mir verliehen bekommen, weil sie das Burnout auch als erfolgreiche Leistungsträger definiert. Diese Profilierung als engagierter, fleißiger und kompetenter Arbeitnehmer vermischt sich immer wieder mit dem StressBegriff.
Haben wir denn tatsächlich immer mehr Stress?
Die Arbeitsbedingungen in Unternehmen haben sich in den letzten Jahren extrem gewandelt. Mitarbeiter bekommen mehr Aufgaben, alleine die quantitativen Anforderungen sind also gestiegen. Außerdem schrumpft die Zahl der mittelständischen Unternehmen, international agierende Arbeitgeber sind nichts Ungewöhnliches mehr. Hier können die Arbeitnehmer zwar Homeoffice machen oder haben Gleitzeit, das müssen sie aber auch, wenn beispielweise aus der Zentrale in New York zu später Stunde noch eine Aufgabe reinkommt.
Mir fällt aber auf, dass viele Arbeitsbereiche in großen Unternehmen so strukturiert sind, dass die Mitarbeiter fremdbestimmter arbeiten. Von oben kommt also ein Auftrag, der muss erledigt werden. Dabei gibt es viele Untersuchungen darüber, dass sich die Zufriedenheit und Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmer erhöht, wenn sie eigene Bestimmungsbereiche haben.
Die Digitalisierung hat dabei sicherlich auch ihren Teil beigetragen …
Natürlich. Wo man früher um 17 Uhr seinen Stift fallen lassen konnte, bekommt man heute auch noch um 22 Uhr Arbeits-Mails auf das Handy. Durch die Digitalisierung sind wir immer erreichbar und müssen die Balance zwischen Arbeit und Privat leben anders herstellen. Alleine an der Arbeitszeit im Büro lässt sich das nicht mehr festmachen.
Müssten also die Arbeitgeber ihre Unternehmensstrukturen anpassen, damit Mitarbeiter sich weniger gestresst fühlen? Oder müssen Arbeitnehmer einfach lernen, sich an diese neuen Anforderungen anzupassen?
Das lässt sich gar nicht so pauschal sagen. Viele vergessen häufig, dass es nicht die eine Lösung für alle gibt. Wie schnell jemand Stress empfindet, liegt auch in der Persönlichkeit des betroffenen Menschen. Da gibt es bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, die besonders stressempfänglich machen, also beispielsweise den Drang, es immer allen recht zu machen. Manche melden sich immer freiwillig, wenn Aufgaben verteilt werden, weil sie dem Chef signalisieren wollen, wie leistungsbereit sie sind. Andere können sich nicht von der Arbeit abgrenzen oder sind zu perfektionistisch. Das sind alles bestimmte Mechanismen, die Menschen ins Straucheln bringen und dann verhindern, dass sie ihre Arbeit bewältigen.
Die Work-Life-Balance
Woran liegt es denn, dass Arbeitnehmer diese Mechanismen entwickeln?
Das kann ganz unterschiedliche Gründe haben. Eine Rolle spielt auch, dass Mitarbeiter eine viel geringere Bindung zu ihrem Arbeitgeber haben. Früher waren viele ihr Leben lang beim gleichen Unternehmen, mit dem haben sie sich richtig identifiziert. Dieses Familiengefühl gibt es heute weniger, weil es in den meisten Firmen einen schnelleren Durchlauf gibt und Menschen den Arbeitsplatz häufiger wechseln. Das führt zu einem geringeren Sicherheitsgefühl, das Arbeitnehmer anders kompensieren.
Bei viel Stress wünschen sich Arbeitnehmer häufig eine bessere Work-Life-Balance. Ist das für Sie der Schlüssel zum Glück oder nur ein leeres Modewort?
Der Begriff „Work-Life-Balance“ sagt im Grunde etwas ganz Richtiges, weil er dazu anregt, sich genug Freiraum für die Gestaltung des Privatlebens zu erhalten. Wir sind alle ständig erreichbar, nach einem festen Zeittakt wie beim typischen Nine-to-five-Job lässt sich das also nicht mehr strukturieren. Das muss man also anders regeln und sich inhalt lich anders sortieren.
Klingt leichter gesagt als getan. Gibt es Strategien, die helfen, wenn man merkt: Jetzt wird mir wirklich alles zu viel?
Das Innehalten als Grundprinzip ist wichtig, also hin und wieder zu pausieren und zu reflektieren: Was passiert gerade? Was habe ich auf dem Zettel? Kann ich das in dem Zeitkontingent, das mir vorgegeben ist, überhaupt schaffen oder muss ich meine Arbeitszeit anders portionieren?
Oft ist fehlende Struktur das Problem. Ich habe außerdem die Erfahrung gemacht, dass es gar nicht schlimm ist, mal Nein zu sagen. Eine Patientin beispielweise wollte immer Chefs und Kollegen gefallen und übernahm deshalb zu viele Aufgaben. Jetzt hat sie festgestellt, dass es ihr niemand übelnimmt, wenn sie etwas nicht schafft. Eine klare Ansage hilft immer.
SZENE HAMBURG Stadtmagazin, Dezember 2019. Das Magazin ist seit dem 20. Dezember 2019 im Handel und auch im Online Shop oder als ePaper erhältlich!