Literatur, Diskussion, Kultur des Zuhörens – Der Jüdische Salon wurde am 15. Januar 2008 von Sonia Simmenauer in ihrem Café Leonar eröffnet. Als das gastronomische Kleinod baubedingt umziehen muss, schließt der Salon vorrübergehend – bis er heute endlich wieder dort ist, wo alles angefangen hat. Grund genug, den 10. Geburtstag zu feiern!
SZENE HAMBURG: Frau Simmenauer, was ist in Ihren Augen „jüdische Kultur“?
Sonia Simmenauer: Es ist das, was wir hier leben, indem wir ein Café aufgemacht haben. Ein Ort, an dem sich alle auf einer intellektuellen Ebene treffen können. Denn, was tut man, wenn man zusammenkommt? Man redet miteinander. Man redet über das Leben und kann anfangen zu philosophieren. Jeder, der sich im Salon eingebracht hat, ist mit eigenen Ideen gekommen. Zum Beispiel eine Bibelstunde: Einer kommt mit seinem Evangelium, einer mit dem Koran, der nächste mit dem Alten Testament. Dann einigt man sich, dass man mit einem bestimmten Paragraphen beginnt, der in allen Büchern ähnlich ist und ihn vergleicht. Was sind die Unterschiede? Die Fragen sind das, was die jüdische Tradition ausmacht. Nicht die Antworten.
Erinnert an Sokrates’ mäeutisches Prinzip: Die Fragen sind das Wesentliche, durch das man zur Erkenntnis kommt.
Man kommt ins Gespräch durch Fragen, nicht durch Antworten. Und das ist das, was wir wollen. Ich stand vor der Talmud-Tora-Schule, als sie 2007 gerade als der Kindergarten wiedereröffnet wurde. Mein Vater hat dort seine letzten zwei Schuljahre gemacht, nachdem er nicht mehr in die öffentliche Schule gehen durfte. Danach ist er nach Frankreich ausgewandert. Als ich also dort vor zehn Jahren diese Kinder gesehen habe – da wusste ich, es gibt hier wieder ein jüdisches Leben. Kein museales, sondern ein echtes. Und da, wo es eine Schule gibt, da muss es ein Café geben. Als es konkret wurde, war klar: auch ein Salon muss dazugehören. Hier wird kein Programm gemacht, das einem bestimmten Dogma folgt, sondern es ist gespickt damit, was jeder liebt, wofür jeder steht. Das Aktuelle, das Alte …
Entweder wir tun nichts und dann passiert auch nichts, oder wir tun was und dann kommt Kritik – gut oder schlecht. Damit muss man leben.
Wobei Sie schon betonen, dass es im Konzept eher um das aktuelle jüdische Leben geht. Mit dem Bewusstsein für das, was im Nationalsozialismus passiert ist.
Wir definieren uns nicht über den Holocaust. Wir sind kein Museum, sondern ein lebendiges Haus. Dass das zu unserem Leben gehört, das wollen wir gar nicht leugnen, und so kommen hier auch immer wieder Themen auf, die davon getragen sind. Aber es gab ein Davor – und es gibt auch ein Danach. Gott sei Dank.
Stichwort „danach“: Inwiefern spielt die Thematik Israel eine Rolle?
Sie ist nicht zentral, denn wir leben hier. Wir sind keine Botschaft von Israel und es wird durchaus auch kritisch mit allem umgegangen. Wir haben sehr früh einen Abend mit einem palästinensischen Schriftsteller und einem jüdischen Fotografen gemacht, die gemeinsam etwas dargestellt haben. Wir haben Ausstellungen gemacht, wo palästinensische Territorien ausgiebig dargestellt wurden, oder welche, wo alle drei großen Religionen dargestellt werden. Israel gehört zum Judentum, ist aber nicht unser Thema. Wir haben eigentlichen gar kein Thema.
Es ist alles offen …
Es ist alles offen.
Wenn es kein Dogma geben soll, dann muss alles offen sein … wie war das Feedback der Zuhörer des Themas Israel und Palästina? Irgendwie hat ja jeder eine Meinung dazu, selbst die, die sich damit so gar nicht auseinandersetzen.
Jeder hat eine Meinung, aber keiner weiß wirklich Bescheid. Wir haben bei Veranstaltungen durchaus kontroverse Diskussionen gehabt, die anschließend im Café weitergeführt wurden. Wir haben auch immer wieder Haue bekommen – sei es, dass wir eine bestimmte Sache gemacht oder eine bestimmte Sache eben nicht gemacht haben. Aber wer sät, der erntet: Entweder wir tun nichts und dann passiert auch nichts, oder wir tun was und dann kommt Kritik – gut oder schlecht. Damit muss man leben.
Wenn man dieses Konzept mit den Salons des 18. Jahrhunderts vergleicht – ist das hier eine moderne Fortsetzung und sie eine Salonière des 21. Jahrhunderts?
Das hat man schon getan. Aber ich möchte nicht wiederholen, was war – ich möchte den Geist behalten. Und das ist die Unterhaltung über Unerwartetes, die absolute Offenheit, an seine Grenzen zu stoßen. Wenn man versucht, zurückzuholen was war – das lähmt. Wenn man das Manko nutzt als Benzin für den inneren Motor, dann ist es lebendig. Das Manko ist aber keine Unzufriedenheit. Es ist eine offene Frage.
Bücher, die mir Türen geöffnet haben? Davon gibt es viele.
Dann eine neue Frage: Literatur hatte einen großen Einfluss auf die Aufklärung und auch auf die Haskala. Welches Buch hat Sie so beeinflusst, dass Sie ihm eine gegenwärtig aufklärende Rolle zusprechen würden?
Bücher, die mir Türen geöffnet haben? Davon gibt es viele. Momentan lese ich Sasha Marianna Salzmanns „Außer sich“. Sie reflektiert über die Emigration, wie ich sie als Kind bei meinen Eltern mitbekommen habe. Ich selbst bin weggegangen von meinem Geburtsort, um dahin zurückzukehren, wo mein Vater herkam. Aber ich bin nicht emigriert, musste nicht gehen. Heute gibt es wieder eine ganze Generation von Emigranten. Salzmann schreibt von Displaced Persons. Das ist zwar ein besetzter Begriff und bezeichnet all jene, die nach dem Krieg nirgendwo mehr hingehörten. Aber haben wir das heute nicht millionenfach? Das öffnet mir heute viele Türen, denn nie ist irgendetwas fertig. Es fängt immer wieder von vorne an. Und das liest man in so einem Buch.
Sie sprechen viel von Ihrem Vater, erzählen Sie doch ein wenig davon, wo Ihre Eltern aufgewachsen sind und was dann passierte …
Er ist in Hamburg geboren und sein Vater wiederum hatte hier eine Firma für Fotopapier, die hieß Leonar. 1938 ist mein Vater nach Frankreich geflohen und auch nach dem Krieg dort geblieben. Mein Großvater ist nie zurückgekommen, die Leonar-Werke wurden von Agfa übernommen und irgendwann verkauft. Die Geschichte meines Vaters ist auch die Geschichte dieses Cafés. Vor zehn Jahren war hier in den Räumen noch Fläschner Druck und als ich die Räume übernommen habe, fragte mich Wolfgang Fläschner, wie es heißen solle. „Irgendwas Jiddisches“ sagte ich. Folkloremäßig. Aber er kannte mich und die Geschichte meiner Familie gut und übergab mir alte Broschüren der Leonar-Werke. Er sagte, es muss Leonar heißen. Andreas Heller, der Architekt, der auch mit diesem Café durch und durch verbunden ist, hat dann das Logo der Leonar-Werke übernommen, jetzt ist es das Logo dieses Cafés.
Und woher kommt der Name „Leonar“?
Ich habe damals mit meiner Tante in Israel telefoniert, um ihr von alledem zu erzählen. Sie sagte mir, dass der Name Leonar eine Kombination der Namen der Firmengründer sei. Löwenthal – also Leon – und Arndt. Und meine beiden Söhne heißen Leonard und Arnold. Das ist die Geschichte zu dem Namen.
Ich bin in der Sehnsucht meines Vaters nach seiner verlorenen Kindheit geboren.
Aber die Geschichte des Cafés fängt ja früher an. Wie sind sie damals nach Hamburg gekommen?
Ich bin 1982 hierhergezogen. Ich hatte meinen ersten Mann in Amerika kennengelernt und kam zu ihm nach Hamburg. Ich bin in der Sehnsucht meines Vaters nach seiner verlorenen Kindheit geboren. Ich habe das getragen und damit auch 25 Jahre hier gelebt, bis ich die Idee zu dem Café hatte. Im Grunde genommen war es mein Geschenk an meinen Vater, um für ihn den Kreis zu schließen. Er hat es noch erlebt.
Und welche Rolle spielt die Literatur in dieser Geschichte?
Meine Großmutter war eine Büchernärrin. Sie hatte es geschafft, ihre Bibliothek mit nach Paris zu nehmen. Die wurde dort von den Nazis beschlagnahmt, schön in Kisten verpackt, mit Namen versehen und nach Deutschland geschickt. Nach dem Krieg schickten die Deutschen die Kisten mit denselben Namen zurück nach Paris. Die Franzosen haben alle Kisten aufgemacht, die Bücher auf Regalen verteilt und denen zurückgegeben, die beweisen konnten, dass sie ihnen gehören. Dadurch erst hat meine Großmutter die Hälfte ihrer Bibliothek verloren. Aber: meine Schwester, die in Paris Anwältin ist, hat gegen den Staat Frankreich prozessiert, gewonnen – und für den verlorenen Teil der Bibliothek eine Kompensation bezahlen lassen. Mein Vater hat mir dann das Geld für dieses Café gegeben.
Da schließt sich wieder der Kreis.
Genau. Und ich glaube, dass dieses Café für diese Kreise steht.
Ein normales Café zieht nicht zweimal um und bleibt voll.
Vielleicht im Sinne der Wiederkehr, denn das Café ist ja mehrmals umgezogen und dennoch lebendig geblieben …
Ein normales Café zieht nicht zweimal um und bleibt voll. Wir sind zweimal umgezogen: Das erste Haus war ein Traum und eine Katastrophe. Es fiel alles auseinander, aber war so charmant. Und der Typ, der hier war, der fiel auch auseinander und war total charmant. Und deswegen wollte man hier einfach sein, obwohl das Wasser an den Wänden runterlief. Die Leute haben es geliebt. Deshalb haben wir es am Anfang für viel Geld renoviert, bis wir festgestellen mussten, dass es gar nicht geht.
Und wie ging es dann weiter?
Wir mussten raus. In der 87 war etwas frei geworden. Andreas Heller hat wieder gezeichnet und eingerichtet – und wir haben den Umzug innerhalb von drei Tagen gemacht. Am Anfang war es schwierig, wir hatten keinen Raum für den Salon und mussten für die Veranstaltungen immer zumachen. Irgendwann gab es Revolte. Als der neue Raum hier am ursprünglichen Platz fertig gebaut war, sind wir zurückgekehrt, in unseren alten und doch neuen Traum.
Was ist Ihre Aufgabe heute im Café?
Ich mache nichts mehr in dem Café. Früher habe ich viel gemacht. Heute komme ich nur ab und zu aus Berlin und schaue nach dem Käsekuchen und meckere über den Hummus. Immer. Das gehört schon fast dazu …
Interview: Jenny V. Wirschky
Café Leonar, Grindelhof 59 (Grindelviertel), Telefon 41 42 92 42; www.salonamgrindel.de
Dieser Text ist ein Auszug aus SZENE HAMBURG, Dezember 2017. Das Magazin ist seit 22. Dezember 2017 im Handel und zeitlos in unserem Online Shop oder als ePaper erhältlich!