Der Hamburger Elvis Jarrs leistet Freiwilligendienst in Costa Rica und berichtet über rebellierende Kinder, tanzende Karotten und ein verschwundenes Zeitgefühl
Widerwillig trete ich aus dem Schatten des Gebäudes – hinaus auf den Hof, hinein in die gleißende Sonne. Juanito sitzt auf meinen Schultern und versucht mir einen Mittelscheitel zu kämmen, Valeria hängt sich von hinten an mein Bein und Carlitos will Kreide. Samuel zerrt noch einmal an meinem rechten Arm und sagt mit Nachdruck: „¡Él me pegó!“ Er zeigt irgendwo in die Horde der vierzig Kinder mit türkisfarbenen Uniformen, die zwischen den rostigen Schaukeln spielen. Es wird gelacht, geheult, hier und da fliegen Steine. Ich habe keine Ahnung wer Samuel gehauen hat, streichle ihm aber über den Kopf und sage: „¿En serio? ¡Pobrecito!“ Dann befreie ich mich aus Valerias Klammergriff, setze Juanito ab und laufe mit wehendem Mittelscheitel auf die andere Seite des Hofes, wo Felipe gerade mit Scherben spielt.
Seit einigen Monaten leiste ich nun meinen Freiwilligendienst in Costa Rica. Ich habe das Projekt gewechselt und bin jetzt dort im Einsatz, wo ich ursprünglich ohnehin arbeiten sollte, bevor ich aufgrund bürokratischer Schwierigkeiten in ein anderes Projekt versetzt wurde. Der Unterschied von einer privaten Kinderbetreuung und einer staatlichen Kindertagesstätte ist beträchtlich. Haben sich in meinem alten Projekt fünf Erzieherinnen um 25 Kinder gekümmert, kommen hier vier Maestras auf bis zu 80 Kinder. Während ich meinen Kolleginnen zuvor eher assistierend zur Seite stand, betreue ich hier die mehr als zwanzigköpfige Gruppe der Fünf- bis Sechsjährigen mit einer Kollegin und passe zudem mindestens eine Stunde täglich alleine auf die Drei- und Vierjährigen auf. Und, was soll ich sagen, ich bin glücklich.
Zentren wie meines sind keine einfachen Kindergärten, sie werden vom Gesundheitsministerium betrieben und sollen in erster Linie sicherstellen, dass die Kinder dort Frühstück und Mittagessen bekommen. Dementsprechend unterscheidet sich die Klientel von der anderer Kindergärten und ich habe das Gefühl, dass mich die Kinder hier schneller ins Herz geschlossen haben. Der Arbeitsalltag ist wesentlich intensiver und für die Betreuer gibt es einige Tücken.
An einem meiner ersten Tage schlug ein Mädchen aus einem Wutanfall heraus auf meine greise Chefin ein. Anstatt sie mit deutlichen Worten auf die stille Treppe zu setzen, bedachten meine Kolleginnen sie nur mit einem tadelnden Kopfschütteln und baten sie fast höflich aufzuhören und wieder spielen zu gehen. Als sie keinen großen Gefallen an der Idee zu finden schien, trug ich das immer noch um sich schlagende Mädchen schließlich weg.
Die Erklärung: Der Kinderschutz in Costa Rica, erzählte mir meine Kollegin später, sei so hoch, dass immer wieder Erzieherinnen mit Arbeitsverboten belegt würden, die rebellierende Kinder auch nur am Arm angefasst hätten. Das sorge natürlich für eine gewisse Machtlosigkeit gegenüber den Kindern, was ein gesundes Autoritätsverhältnis mitunter merklich erschwert. Nun ja, mein Unterkiefer ist mittlerweile wieder eingerenkt!
Auch sonst hat sich in den vergangenen Wochen einiges geändert. Jannos tackert nicht mehr, er hat sein Projekt nach einigem Hin und Her wechseln dürfen und ist jetzt Förster. Ich habe mittlerweile eine Fußballmannschaft gefunden, deren rustikale Spielweise mir als ehrlichem Innenverteidiger sehr zu Gute kommt. Und Spanisch sprechen, kann ich jetzt langsam, obwohl ich die meiste Zeit in breitem Tico-Slang rede, was mitunter zu Kommunikationsschwierigkeiten mit Spaniern und Venezuelanern führt.
Später am Tag stehe ich mit 25 umherwuselnden türkisfarbenen Uniformen in der Aula: Im Rahmen der staatlichen Ernährungswoche werden die Kinder aus meinem Projekt kommenden Freitag einen Tanz zum Thema Obst und Gemüse aufführen. 25 Kinder werden in improvisierten Kostümen eine einminütige Choreografie präsentieren. Während ich also vor einer Klasse wild herumtanzender kleiner Ticos stehe und pantomimisch imaginäre Mangos vom Baum pflücke, fällt mir auf, dass ich nicht den Hauch einer Ahnung habe, welches Datum wir haben. Mein Zeitempfinden scheint sich langsam zu verabschieden. Naja. Die Kinder hüpfen hoch, um zu zeigen, wie hoch sie noch wachsen werden, wenn sie viele Karotten essen. Mai dürften wir schon haben, oder?
Text: Elvis Jarrs